Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Start ins Neue Jahr – Christian Reuter lässt uns teilhaben an einer Ausstellung in Mainz.
Hier wird es papiertheaterwissenschaftlich: Die Forscher Uwe Warrach und Norbert Neumann bewegen sich auf den Spuren Thomas Manns in Lübeck .
Und noch wissenschaftlicher: Das PapierTheater veröffentlich hiermit Sabine Herders kompletten Märchen-Vortrag vom letzten Symposium in Hanau.
Letzter Beitrag der Nr. 10: Die wunderbare Papiertheatergeschichte der Pastoren-Familie Hoffmann.
(rs)
INHALT – Nr. 10 – Januar 2009
Christian Reuter zieht in Mainz den Vorhang auf Seite 2
Uwe Warrach über das Papiertheater von Hanno Buddenbrook Seite 3
Sabine Herder: Märchen im deutschen Papiertheater Seite 4
Walther und Heinz Hoffman: Familiengeschichte mit PapiertheaterSeite 5
Aschenputtel auf Lithographiestein
Das PapierTheater Nr.10 SEITE 2 Januar 2009
Weihnachtssonderausstellung
Ausstellungsplakat
Vorhang auf!
Marionettenbühne, Papiertheater, Märchenfiguren
Weihnachtssonderausstellung
30. November 2008–25. Januar 2009 Stadthistorisches Museum Mainz
Zitadelle Bau D
Begleitprogramm
Artikel der Allgemeinen Zeitung
Beatrix Mühlberg-Scholtz sammelt Erzeugnisse des Verlags Josef Scholz aus Mainz, vor allem Spiele und Bücher und auch Theater. Sie hat eine inzwischen sehr hochwertige Sammlung, mit der sie schon mehrere Ausstellungen gemacht hat, so vor allem Ende 2006 im Gutenbergmuseum in Mainz.
Diesmal zeigt sie mehrere ihrer Bühnen und Zubehör zusammen mit dem Marionetten-Theater des Museums.
Als Mitglied im Förderverein des Stadtmuseums hat sie die Ausstellung auch konzipiert.
Weihnachten verbrachte ich in Mainz, wenige hundert Meter von der Zitadelle am Rande der Altstadt entfernt.
Um 1050 war dort auf altem römischen Boden ein Benediktinerkloster entstanden. Das Ehrenmal für den Feldherrn Drusus und die Grabungsstätte am größten römische Bühnentheater nördlich der Alpen zeugen noch heute von alter Vergangenheit.
Ende des 17 Jahrhunderts wurde auf dem Jakobsberg die militärische Festungsanlage errichtet, die in einem der inzwischen restaurierten Gebäude das Stadthistorische Museum Mainz beherbergt.
Dort ist seit dem 30. November 2008 bis zum 25. Januar 2009 eine kleine Ausstellung aus der Sammlung Scholtz zu sehen, die ich am ersten Weihnachtsfeiertag besuchen konnte. Sie gibt mit einigen schönen Exponaten und mit Aufführungen Einblick in die Welt des Kinder- und Papiertheaters.
Das Museum ergänzt die Ausstellung mit einem Marionettentheater, das es aus der Familie des Mainzer Malers Hans Kohl (1897–1990) als Dauerleihgabe besitzt. Er hatte es wohl zusammen mit dem Münchener Marionettenschnitzer Oberholzer offensichtlich nach den aufwändigen Konstruktionsplänen von Max Eickemeyer für seine Kinder gebaut. Die Eickemeyer-Konstruktion ist nicht sehr häufig zu sehen, deshalb ist es für uns von besonderem Interesse. Die charakteristische Seitenkulissenhalterung zeigen einige Bilder, die in und durch die Ausstellung führen.
Eingang in die Zitadelle
Das Museum in der Zitadelle am Drusus-Ehrenmal
Scholz-Theater Urania Nr. 8
Jacobsen F-Theater
Marionetten-Theater (Mainzer Dauerleihgabe)
FrÜhes Scholz-Theater
Die Marionetten-BÜhne
Theaterfiguren
Scholz-Figurenbogen und Marionetten
Lithographiestein von Schreiber
Figuren zu Aschenputtel
Konstruktion des Marionettentheaters nach der Eickemeier-Vorlage
Der Blick auf Mainz mit seinem Dom beim Verlassen der Zitadelle
Das PapierTheater Nr.10 SEITE 3 Januar 2009
Aus aktuellem Anlass
Scholz-BÜhne: Forschung und Ergebnis
de.wikipedia.org/wiki/Buddenbrooks
www.buddenbrookhaus.de
wwws.warnerbros.de/buddenbrooks
Hannos Papiertheater:
im Roman von Thomas Mann:
BUDDENBROOKS. Verfall einer Familie
im BUDDENBROOK-Haus in LÜbeck
in der Neuverfilmung
BUDDENBROOKS
von Heinrich Breloer, 2008
„Bei alldem ist wohl kein Zweifel, dass ich meine schönsten Stunden unserem Puppentheater verdankte, das schon meinem älteren Bruder Heinrich gehört hatte und dessen Dekorationen durch ihn, der gern Maler geworden wäre, um viele, sehr schöne selbstgemalte vermehrt worden waren. Die Art, wie ich dieses Kunstinstitut leitete, habe ich ausführlich in einer meiner ersten Novellen (‚Der Bajazzo‘) beschrieben und auch in Hanno Buddenbrooks Lebensgeschichte spielt es eine Rolle. Ich liebte dies Spiel so sehr, dass mir der Gedanke, ihm jemals entwachsen zu können, unmöglich schien. Ich freute mich darauf, wenn ich die Stimme gewechselt haben würde, meinen Baß in den Dienst der sonderbaren Musikdramen zu stellen, die ich bei verschlossenen Türen zur Aufführung brachte, und war empört, wenn mein Bruder mir vorhielt, wie lächerlich es sein würde, wenn ich als baßsingender Mann noch vorm Puppentheater sitzen wollte.“
(Thomas Mann: Kinderspiele, 1904)
Mag sein, wir haben das andere Papiertheater-Zitat von Thomas Mann etwas abgenutzt, die Passage aus den BUDDENBROOKS: Wie Hanno zu Weihnachten ein Papiertheater bekommt. Auch in der gedruckten Weihnachtsausgabe von DAS PAPIERTHEATER haben wir es strapaziert.
Die Lieblingsszene der Papiertheater-Enthusiasten spielt in der aktuellen, der vierten Verfilmung des Romans eine deutlich wahrnehmbare Rolle. Zwar entspricht die im Film aufgebaute Bühne nicht den nachstehend dargestellten Forschungsergebnissen, aber zumindest die Fidelio-Figuren sind identisch. Im Buddenbrookhaus selbst findet sich die wahrscheinlich „richtige“ Ausgabe und Norbert Neumanns Expertise dazu. Die finde ich interessant genug, um sie auch hier vorzustellen.
Doch vorweg noch etwas zum Thema BUDDENBROOKS:
Das so genannte Buddenbrookhaus gehörte der Lübecker Kaufmannsfamilie Mann, indessen ist Thomas Mann (1875–1955) dort nicht geboren und hat seine Kindheit überwiegend auch nicht dort, sondern im damals neuen Haus der Eltern in der Beckergrube verbracht.
Bereits 1891 wurde das Buddenbrookhaus verkauft (da war Thomas Mann 16 Jahre alt), 1942 teilweise zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Lange Zeit spielte es nicht die Rolle eines markanten Denkmals. Überhaupt tat sich Lübeck recht schwer mit den schreibenden Brüdern Thomas und Heinrich Mann (1871–1950).
Dabei hatte Thomas 1929 den Nobelpreis bekommen und genoss internationales Ansehen. Aber die Bürger Lübecks trugen es ihm wohl immer noch nach, dass er sie in seinem Erstling ziemlich unverblümt bloßgestellt hatte. Zwar wurde er 1955 noch Ehrenbürger der Stadt, doch der Empfang war kühl; man verübelte es ihm, dass er aus der amerikanischen Emigration heraus Rundfunkansprachen über den mangelnden deutschen Widerstand gegen Hitler gehalten hatte. In den 80er Jahren fand sich lediglich eine kleine Ausstellung im Drägerhaus über die Brüder.
1991 erwarb die Stadt das Buddenbrookhaus von einer Bank. Inzwischen dient es dem Andenken, man darf wohl auch sagen: der Verehrung der Schriftsteller und ihrer Familie sowie themenverwandten Ausstellungen und Veranstaltungen. Das schöne Weihnachtskapitel hat mittlerweile Kultcharakter und wird seit 2002 alljährlich im Weihnachtscafé im Gewölbe bei Buddenbrook’schem Gebäck und Adventskaffee vorgelesen.
Bei aller Begeisterung über den 1902 erschienenen „Jahrhundertroman“ sollte man aber auch wissen, dass Thomas Mann zunächst kein Vordenker gesellschaftlichen Fortschritts war. Noch nach dem Ersten Weltkrieg, in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) verteidigte er den wilhelminischen Geist, den sein weitsichtigerer Bruder Heinrich zur selben Zeit in seinem Roman „Der Untertan“ als kommenden Totengräber der Demokratie erkannte. Heinrich wurde bei offiziellen Ehrungen übergangen, noch 1975 war beim Lübecker Amt der Kultur über ihn fast nichts zu erfahren.
Erfreulicherweise hat die Stadt seitdem diese Art von Umgang mit ihren Söhnen gründlich geändert. Das Museum gibt erschöpfend Auskunft über die literarische Familie und spezielle Motive wie z.B. den neuen Buddenbrookfilm.
Im Rahmen der Expo 2000 ging man daran, das Museum im Buddenbrookhaus als „Literaturprojekt“ umzugestalten und einigen Räumen das Gepräge des Romans zu verleihen, der ja stark autobiographisch ist. Im Speisesaal sollte Hannos Theater auf dem Tisch stehen.
Doch wie hatte seine Bühne ausgesehen? Präzise beschrieben ist sie im Roman nicht. Ratsuchend wandte man sich an Norbert Neumann: Wie finden wir die historisch möglichst genaue Version? Hier ist das Ergebnis.
Norbert Neumann:
Auf was fÜr einem Papiertheater spielte Thomas Manns Hanno Buddenbrook FIDELIO?
Probleme der Zuordnung im Spannungsfeld zwischen Thomas Manns Biographie, der fiktiven Biographie seiner Romangestalt Hanno Buddenbrook und der Faktenlage der Papiertheater-Forschung
Thomas Mann 1875–1955
BUDDENBROOKS erschien 1901, geschrieben von Mann zwischen 1897 und 1900, im Alter von 22 bis 25 Jahren
Die für die Verifizierung des Papiertheaters relevante fiktive BUDDENBROOK-Zeittafel:
Hannos Vater Thomas B. lebt 1826–1875, stirbt also mit 48.
Hanno, geb. im Frühling 1861. Das Papiertheater bekommt er offensichtlich zum letzten Weihnachtsfest, an dem die alte Konsulin B. noch lebt. Nach dem ersten Weihnachtsfest ohne die Konsulin wird „Zu Beginn des Jahres 72 … der Hausstand der verstorbenen Konsulin aufgelöst“. Gestorben ist sie im Herbst des Vorjahres, also 1871.
Hanno bekommt also sein Papiertheater Weihnachten 1870, im Alter von 9 Jahren. Der Wunsch nach diesem Papiertheater ist ausgelöst worden durch Hannos ersten Theaterbesuch im gleichen Jahr, es gab FIDELIO.
Der Roman bietet folgende Anhaltspunkte zur Identifizierung des Theaters und der Bühnendekoration:
„… ein muschelförmiger Souffleurkasten, hinter dem breit und majestätisch in Rot und Gold der Vorhang emporrollte. Auf der Bühne war die Dekoration des letzten Fidelio-Aktes aufgestellt. Die armen Gefangenen falteten die Hände. Don Pizarro, mit gewaltig gepufften Ärmeln, verharrte irgendwo in fürchterlicher Attitüde. Und von hinten nahte im Geschwindschritt und ganz in schwarzem Sammet der Minister, um alles zum besten zu kehren.“
Hanno Buddenbrook ist offensichtlich Thomas Manns Alter Ego. Der autobiographische Bezug zum Papiertheater wird weiter gestützt durch Thomas Manns Erzählung DER BAJAZZO, in der er seine Beschäftigung mit dem Papiertheater beschreibt und wiederum „das Loch, das ich in den Vorhang geschnitten hatte“ erwähnt. In den BUDDENBROOKS heißt es bereits:
„Wie wird der Vorhang aussehen? Man muß baldmöglichst ein kleines Loch hineinschneiden, denn auch im Vorhang des Stadttheaters war ein Guckloch …“
Nur wenn man die Übereinstimmungen zwischen Thomas Manns Biographie und der fiktiven Biographie seines Hanno Buddenbrook berücksichtigt, lassen sich zeitliche Widersprüche erklären.
Nach unserem bisherigen Forschungsstand gibt es zum FIDELIO nur einen Figurenbogen. Erschienen im Verlag Scholz, Mainz, als Nr. 282, ca. 1890, so Georg Garde (Seiten 115 und 331). Ein Bogen, den Garde als für die Theatergeschichte unbedeutend erklärt, da er ihm keinen Quellenwert als Abbild einer realen Aufführung zubilligt.
Wenn der Figurenbogen zu FIDELIO also ca. 1890 erschienen ist, kann Hanno ihn unmöglich zu Weihnachten 1870 bekommen haben. Wohl aber kann Thomas Mann, geb. 1875, damit gespielt haben. Im BAJAZZO heißt es: „Dieses Spiel blieb bis zu meinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr meine Lieblingsbeschäftigung.“
Der Scholzsche Figurenbogen ist ein Indiz dafür, dass Proszenium und Dekorationen aus dem gleichen Verlag kamen. Darauf deutet auch der von Hanno erwähnte Souffleurkasten hin. Zwar gibt es viele Papiertheater mit Souffleurkasten, dabei handelt es sich aber meistens um sogenannte Haustheater, von der Familie selbst oder von Tischlern gebaute Theater.
Uns sind nur zwei gedruckte Proszeniumsbogen mit Souffleurkasten bekannt. Einer davon ist das Scholzsche Proszenium Nr. 7.
Als dazu passend gibt der Scholz-Katalog u.a. Vorhang Nr. 4 und Innere Gardine Nr. 500 an. Der Vorhang ist in dem von Hanno geschilderten Rot und Gold gehalten. Auf dem Bogen der inneren Gardine sind auch etliche Miniatur-Theaterzettel abgedruckt, darunter FIDELIO.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Hanno Buddenbrook/Thomas Mann also mit den Scholz-Figuren auf dem Scholz-Theater mit dem Proszenium Nr. 7 und den Vorhängen/Gardinen Nr. 4 und 500 gespielt. Zumindest scheint mir diese These vertretbar.
Bleibt die Frage: In welchen Kulissen hat Hanno/Thomas gespielt?
In den BUDDENBROOKS ist die Rede von der Dekoration des letzten Fidelio-Aktes. In „Opera“, deutsch 1981 Wiesbaden, und „Oper Operette Konzert“, 1955 Gütersloh, wird die Werkgeschichte des FIDELIO dargestellt, der zahlreichen Veränderungen unterworfen war. Danach wäre für den letzten FIDELIO-Akt sowohl die Szene Kerker als auch die Szene Hof der Festung möglich.
Zur Klärung wäre es hilfreich festzustellen: Hat der junge Thomas Mann den FIDELIO tatsächlich noch im Lübecker Stadttheater gesehen oder in seinen ersten Münchner Jahren? Und: In welcher Fassung wurde der FIDELIO gegeben?
Scholz bietet als „kleine Dekorationen“ (passend zum Proszenium Nr. 7) Rittersaal K, k und Kerker L, l an. Als mittlere Dekorationen Park Nr. 2, 2a und Burghof Nr. 18, 18a. Dazu passen Proszenium Nr. 10, Vorhang Nr. 10, Gardine Nr. 10, die aber nicht den Beschreibungen des Papiertheaters in den BUDDENBROOKS entsprechen.
Die Figuren zu FIDELIO – ausgeschnitten, in Farbkopien – hat Christian Reuter, Essen, zur Verfügung gestellt. Der wohl sehr seltene Bogen ist unseres Wissens ausser in der Sammlung Reuter nur noch in der Röhler-Sammlung in Darmstadt und im Germanischen Museum in Nürnberg zu finden.
Proszenium Nr. 7, Vorhang Nr. 4 (auch als Reprint) und Gardine 500 (auch als Reprint) und die „kleinen Dekorationen“ Rittersaal K, k (auch als Reprint) und Kerker L,l sind in meiner Sammlung. Dito andere Scholz Proszenien, die dem Format der Nr. 10 entsprechen, Vorhang Nr. 10 und Park Nr. 2, 2a.
Kunst und Gewerbe
GeschÄft und Moral
Fassade und Wirklichkeit I
Fassade und Wirklichkeit II
Licht und Schatten I
Licht und Schatten II
Das PapierTheater Nr.10 SEITE 4 Januar 2009
Spurensuche
Tafel 2 – Scholz: Die 7 Raben
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Vortrag von Sabine Herder:
Märchen im Papiertheater
Unter dem Titel „Märchen im Papiertheater“ suchte Sabine Herder eine Antwort auf die Frage, warum es nach 1870 zu der auffälligen Häufung von Märchentiteln im Angebot der deutschen Papiertheaterverlage kam.
Ausgehend von Jakob Ferdinand Schreibers „Kindertheater“, das 1878 gleich mit acht Märchentiteln debütierte, wird die Produktion der bedeutendsten Papiertheaterverlage Deutschlands (neben Schreiber auch Josef Scholz, Winckelmann & Söhne, Gustav Kühn und Oehmicke & Riemenschneider) verglichen, ein Kanon der beliebtesten Märchen herausgearbeitet und nach Ursachen für das plötzliche gehäufte Auftauchen von Märchen auf dem Papiertheater gesucht.
TatsÄchlich hatte die Märchenrezeption im Zeitalter der Industrialisierung zugenommen und war gezielt in den Dienst der zeitgenössischen Pädagogik gestellt worden. Als ideales Vermittlungsinstrument für bürgerliche Tugenden und nationales Selbstverständnis gleichermaßen wurden Märchen – z.T. in überarbeiteten Fassungen – in die Lehrpläne für den Deutschunterricht aufgenommen.
Für die Bilderbogenverleger bedeutete dieser neue Trend ein neues lukratives Geschäftsfeld, das bedient werden wollte. Schreiber, der als erster das Papiertheater ausdrücklich als Kinderspielzeug definierte, sicherte damit einer bereits im Aussterben begriffenen Kunstform für weitere Jahrzehnte das Überleben.
Sabine Herder
Tafel 11 – Schreiber: Der Wolf und die 7 Geisslein
Das PapierTheater Nr.10 SEITE 5 Januar 2009
Foto Christian Reuter
Familiengeschichte I
Seit langem ermuntert der Vorstand des Forum Papiertheater ältere Mitglieder, ihre persönlichen Erlebnisse zum Thema Papiertheater aus Kinder- und Jugendzeiten zur Verfügung zu stellen.
So kann der Reiz dieser Theaterform und seiner Möglichkeiten von jüngeren Menschen verstanden werden.
Wenn ich kein Schauspieldichter geworben bin, wie der große Goethe, so ist dies jedenfalls nicht die Schuld meiner Eltern. Denn sie haben getan, was sie konnten: Auch meiner Kindheit Zauberreich, wie das des großen Frankfurters, war das Puppentheater.
Meine Mutter hatte einen aufmerksamen, liebevollen Blick auf alles, was wir Kinder trieben, und wendete es zu unserem Besten. Dass ich einmal mit der Schere die neuen Beffchen in kleine Stücke zerschnitt, die sie dem Vater für Weihnachten gemacht, aber auf dem Nähtisch hatte liegenlassen, hat sich mir nur deshalb so schmerzlich eingeprägt, weil ich nichts auf die Finger bekam, dafür aber zu Weihnachten mit anhören musste, wie sie traurig zu meinem Vater sagte, daß sie – aus besagten Gründen – ihm keine neuen Beffchen schenken könne! Das war ein entsetzlicher Augenblick und ein Wermutstropfen in den Becher der Weihnachtsfreude.
Eines Tages aber im Herbst entdeckte sie, daß ich heimlich mit Pappe und Farben hantierte und mir mit Kulissen Hintergrund und Figuren ein kleines Theater baute, das sich freilich nicht sehen lassen konnte. Sie sagte nichts dazu. Zu Weihnachten aber, nachdem ich Achtjähriger eine halbe Stunde lang teils in den Christbaum gestarrt, teils meinen kleinen Tisch in Augenschein genommen hatte, wendete ich zufällig den Blick nach links – und erstarrte.
Denn da stand, mit doppeltem Holzboden, ein Theater, dessen Kulissen nicht wackelten.
Es war ein herrliches Bauerndorf, über dem der Mond leuchtete, und in dessen Kirche die Fenster strahlten, wenn man hinter den Hintergrund ein Licht stellte. Im Kasten lag ferner jener Wald, der für mich seitdem der Inbegriff des Waldes geworben ist, eine Stadt ein „Salon“ und eine Bauernstube, In anderen Kästen lagen die Figuren für die Theaterstücke. Die Mittel zu dieser ganzen Wunderwelt hatte das bare Weihnachtsgeschenk des Großvaters dargeboten. Die Idee aber war von meiner Mutter ausgegangen, die das Spiel meiner kindlichen Phantasie beobachtet hatte.
Welch ein Weihnachtsabend!
Zum Epiphaniastag, auch Hohneujahr genannt, kam der Wohltäter selbst, mein Großvater. Denn er hielt in unserer Kirche eine Missionspredigt. Indem ich heute die gedruckte Predigt von damals lese, kann ich ermessen, was ich kleiner Kerl damals alles nicht verstanden habe. Aber die ehrwürdige Gestalt auf der Kanzel, auf der sonst mein Vater stand, die heilige Begeisterung des Siebenundsechzigjährigen, die Feierstimmung der
großen Gemeinde, das alles hat sich meinem kindlichen Gemüt unauslöschlich eingeprägt. Ich konnte im Übrigen dabei verstehen, dass dieser Großvater in jungen Jahren einmal so heftig auf eine Kanzelbrüstung geschlagen hatte, dass er vor der erstaunten Gemeinde in einer Staubwolke verschwand.
Am Tage zuvor aber, des Nachmittags, gaben meine Schwester und ich den Großeltern und den Eltern eine Festvorstellung auf unserem Theater. Schneewittchen und die sieben Zwerge gingen über die Bretter, die die Welt bedeuten. Der Großvater, in Würdigung der künstlerischen Leistung, zahlte eine Mark Eintrittsgeld. Und mit rührender Geduld verfolgte er das Spiel, als ob Lewinsky vom Wiener Burgtheater, den ich später als Franz Moor sah, die Hauptrolle spielte. Die größte Freude hatte er wohl daran, dass in der Schlussszene die sieben Zwerge sich in ihre sieben Drahte verwickelten und durcheinander stürzend die Bühne in ein Leichenfeld verwandelten.
Ich war außer mir. Ich schämte mich tief und gestand mir, dass das Eintrittsgeld nun doch zu hoch bezahlt sei. An eine Rückerstattung dachte ich freilich nicht.
Aber die Not macht erfinderisch. Wir beschlossen, die fatalen Drähte, die nach oben standen, seitlich in die Figurenklötzchen einzubohren. Auch sonst wurden wunderbare Erfindungen gemacht.
Eine Brücke wurde gebaut, von der „Elsa, die standhafte Magd“, in die Tiefe stürzte. Wolken, Waldesgrün oder Zimmerdecken verliehen als „Soffitten“ der Bühne oben einen Abschluß. Blitz und Donner standen uns zu Gebote. Bleistücke gaben den Figuren einen festen Stand.
Neue Kulissen erwiesen sich als außerordentlich billig, wenn man die Bogen kaufte und selber auf Pappe zog. Und die Höhe wurde erreicht, als auf unserer Bühne Robinson als Dieb das Hamburger Vaterhaus verließ, als Schiffbrüchiger im Meere schwamm (man sah seinen Kopf über einer Welle), im farbenprangenden Urwald sein Zelt aufschlug und über das Meer in die untergehende Sonne schaute.
Das sind die schönsten Spiele der Kindheit, die die kindliche Phantasie anregen. Auch das Deklamieren mit hoher und tiefer Stimme war eine ganz gute Übung. Und ein Märchenschimmer von damals begleitet mich bis heute.
Seitdem habe ich die Wonne dieses Theaters noch in drei Generationen miterlebt, obwohl ich noch nicht einmal ein Großvater bin. Zuerst waren es meine beiden um zehn und zwölf Jahre jüngeren Geschwister, dann meine beiden Neffen, endlich meine eigenen Kinder. Was seitdem an Licht- und Knalleffekten noch hinzugekommen ist, das würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen. Heute liegen Dorf und Stadt, Wald und Urwald, Dornröschen und Wilhelm Tell, Blitz und Donner auf dem Boden und harren einer abermaligen fröhlichen Auferstehung.
Handschriftliche Anmerkung des Heinz Hoffmann:
„… doch leider sind sie mit dem gesamten Theater
beim Angriff auf Chemnitz im März 1945 verbrannt!“
Familiengeschichte II
Dr. Heinz Hoffmann, Pastor i. R. am Dom zu Brandenburg, hat am 30. Oktober 2008 in seinem 74. Lebensjahr diese Welt verlassen.
Das Forum Papiertheater wird ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.
Es fing alles damit an – wenn man der mündlichen Familienüberlieferung trauen will –, dass eines Tages Volkmar Schröpfer, Doktor der Medizin, praktischer Arzt, Geburtshelfer und Männer-Gesangsvereins-Bruder in Gornsdorf zu Gerhard Hoffmann (Anm. d. Red: Gerhart ist der Vater des Autors dieser Zeilen) – Licentiat der Theologie und Pfarrer zu Gornsdorf – kam. Er hatte einen flachen Kasten unter den Arm, gezimmert aus Brettern, die die Welt bedeuten. Darin war ein Proszenium in der künstlerischen Qualität der Gründerzeit, eine Dekoration „Wald“, eine Dekoration „Stube“ – vielleicht mag auch noch eine „Gebirgsgegend“ dabei gewesen sein. Einige Figuren zum „Freischütz“, zum „Robinson Crusoe“, einige Textbücher, die Anna John mit verteilten Rollen zum Wohl der bürgerlichen Jugend verfasst hatte. „Meine Kinder spielen nicht mehr damit – möchten Sie's haben?“ und Gerhard Hoffmann mochte.
Er hatte immerhin drei heranwachsende Töchter: Irmgard, Margarete und Annemarie. Dann hat er zielsicher und emsig an der technischen Vollendung des Schnürbodens und den Klötzchen für die Figuren, alles mit Hilfe des Stellmachers Wieland. Vom Verlag Schreiber in Esslingen bestellte er eine Dekoration nach der anderen, ein Stück nach dem anderen. Alles musste auf Pappe aufgezogen und ausgeschnitten oder gar ausgestochen sein.
Der jüngste Bruder Heinz, 1935 geboren (Anm. d. Red: Heinz ist der Verfasser dieser Zeilen), wuchs in diese Wunderwelt hinein, werkelte viele Jahre lang als Bühnenbildner, Intendant und Regisseur. Es war Krieg und Nachkrieg. Es mangelte nicht nur an Brot und Kartoffeln, an Fett und Fleisch, sondern auch am richtigen Kleber und den Vier-Volt-Lämpchen für das Proszenium. Da war Zeit für Erfindungen, aber wer möchte sie wieder zurück wünschen?
Wenn ich mich der ersten Eindrücke von dem Theater, dem ich später lange Jahre als Direktor vorstand, zu erinnern versuche, so kommt wohl am ehesten „Dornröschen“ ins Gedächtnis, sei es die dichte Dornenhecke, die sich bei der Ankunft des Prinzen geheimnisvoll und lautlos zerteilte, sei es die Versammlung der Schloßbewohner, die laut schnarchend im Chaos ihrer verfilzten Führungsdrähte die Schloßküche füllten, oder auch das schlafende Dornröschen im dämmerigen Burgzimmer, das bei Ankunft des Prinzen empor schnellte und wieder fest auf ihrem Holzklötzchen stand. Auf ein direktes Wachküssen kann ich mich nicht besinnen. Das mag an meiner damaligen Unreife liegen, vielleicht aber auch auf die redaktionellen Eingriffe von Ernst Siewert zurückzuführen sein, der unermüdlich die berühmten Schauspiele, klassische Opern oder Märchenstoffe für das Kindertheater bearbeitete und mehr oder weniger behutsam dem Theater den Stempel der moralischen Anstalt aufdrückte.
Mein Vater, damals noch erster und alleiniger Theaterdirektor, ließ es wiederum nicht an behutsamen Eingriffen fehlen, um manches gar zu Geschraubte auf den Boden unserer normalen Sprache zurückzuführen, also etwa in dem Stück „Rosa von Tannenburg“ die Frage „Was ist die Glocke, Rosa?“ beherzt zu ändern in „Wie spät mag es jetzt sein?“ Auch spricht es für sein Berufsethos und theologisch-praktisches Fingerspitzengefühl, wenn er beispielsweise Streichungen an der Stelle vornahm, da Robinson nach schrecklichem Schiffbruch an Land gespült wurde. Das ausführliche Dankgebet klang gar zu sehr nach der lutherischen Agende von 1894.
Das alles geht also noch in die Zeit zurück, da ich unter Androhung aller faustischen oder sonstigen Höllenstrafen noch gar nichts hinter den Kulissen zu suchen hatte und meine großen Schwestern das Sagen hatten, wie einige erhalten gebliebene, handgeschriebene Rollenbücher beweisen. Die eigentlich entscheidenden Eindrücke erster Mitwirkung, Herstellung von Figuren oder Bühnenbildern und dergleichen sind untrennbar mit Kriegsende und Nachkriegszeit verbunden.
Die zahlreichen Theaterkisten und -kästen standen übrigens jahrelang am unteren Ausgang des Pfarrhauses nahe dem Luftschutzkeller, wo sie neben persönlichen Gegenständen eher zu retten gewesen wären als aller Hausrat. Vater Gerhard Hoffmann meinte, dass manches Zerbombte und Verbrannte zu ersetzen sei, niemals aber ein originales und gewachsenes Theater!
Wir wurden nicht nur vor Bomben, sondern auch vor dem Vergehen des Theaters bewahrt.
Gornsdorf blieb, von einer verirrten Sprengbombe in einem Bauerngut abgesehen, zwar verschont, aber tage- und nächtelang sahen wir nach dem 5. März 1945 den
roten Himmel über Chemnitz, wo in einer Nacht alle Verwandten ausgebombt wurden, und dabei auch das Kindertheater aus Familienbesitz, das mein Onkel Walther Hoffmann in seinen Erinnerungen (siehe „Das Theater“) beschreibt, verbrannte – umso mehr Ansporn, den eigenen Besitz ständig mit neuen Stücken und Dekorationen zu vervollkommnen. Großzügigkeit und Weitblick veranlassten meinen Vater, alles aufzukaufen, was bei Schreiber In Esslingen noch zu haben war. Auch dort soll dann der Rest den Bomben zum Opfer gefallen sein – einige sind erst seit wenigen Jahren als Reprint erneut verfügbar.
Vieles an Belebung der papiernen Bögen spielte sich zur Weihnachtszeit unter abenteuerlichsten Bedingungen ab – wir lebten zeitweise zu sechst oder siebent in einem einzigen heizbaren Zimmer. Es gab aber auch Tage und Wochen, wo die Brennvorräte für das ganze Haus reichten (es sei denn, bei strenger Kälte fror das Wasser schon in den Heizkörpern, ehe überhaupt das Anheizen effektiv wurde). Da wurde dann umso emsiger aufgezogen, ausgeschnitten, ausgebrochen. Nach Vollendung der dritten Kulisse „Gitter“ im „Kerker“ hatte ich Blasen an den Händen.
Besonders heikle Gegenstände an den einzelnen Figuren mußten besonders sorgfältig behandelt oder gelegentlich mit Streichhölzern verstärkt werden, etwa die lange Nase der Jungfer Naseweis oder mancher Degen, manche Fahne oder der mehrarmige Leuchter, mit dem Franz Mohr vom 1. bis 5. Akt der „Räuber“ durch das Szenarium eilt . Daß der Krieg zu Ende war, ist auch daraus ersichtlich, daß die Umrisse des Geistes von Mazens Mutter im Freischütz sowie einige Knochen in der Wolfsschlucht aus phosphoreszierendem Material geschnitten wurden, wie es von den Umrandungen der Hausnummern aus der Luftschutzzeit übrig geblieben war.
„Gummi arabicum“ behielt für mich immer einen etwas mystischen Beiklang. Dieser wichtigste Papierkleber ging schließlich irgendwann nach 1945 zu Ende und wurde durch einen sirupähnlichen, aber deutlich weniger effektiven Klebstoff ersetzt.
Abenteuerlich war auch die Verfertigung diverser Effekte, sei es in der Elektrizität, da man aus stillen Reserven zehrte, oder zur Verfertigung von Blitzen aus Kolophoniumpulver und Donner aus einem ausgedienten Ofenblech. Äußerst stolz war ich auf eine Sturmmaschine. Eine nach einer Seite offene Papptrommel hatte als Boden ein Pergament, in dessen Mitte ein langes Roßhaar befestigt war. Das Ganze wurde dann in kreisende Bewegung um einen mit Kolophonium eingeriebenen Stab gewirbelt. Leider brach zuweilen der eindrucksvolle Sturm so plötzlich ab, wie es in der Natur nicht vorzukommen pflegt, weil sich die Papptrommel selbständig machte und irgendwo im Bühnenraum niederging.
Die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühnenbereich wurde streng eingehalten, was sich natürlich am günstigsten mit zwei Zimmern und einer Zwischentür bewerkstelligen ließ.
Allerdings wurde gelegentlich die Grenze zwischen Publikum und Mitwirkenden fließend. Allein die Wolfsschlucht erforderte vom Feuer unter dem Kessel bis zur wilden Jagd, Blitz und Donner und feuerspeiendem Drachen viel Fingerfertigkeit und Geistesgegenwart von der schauerlichen, durch eine Papptute dröhnende Frage Samiels „Was ist dein Begehr?“ ganz zu schweigen.
Im Nachherrein bewundere ich außerordentlich die Fähigkeit meines Vaters, trotz seiner Taubheit die Übersicht über das Geschehen zu behalten. Wegen der zum Teil verblüffenden Parallelen muß ich hier nachdrücklich auf Haidvogels Erinnerungen „Vater und die Wolfsschlucht“ verweisen.
Einmal geriet das Zahlenverhältnis zwischen Publikum und Akteuren hart an die Grenze des Mißverhältnisses (ich greife hier allerdings schon an den Anfang der 50ger Jahre vor). Im Zuschauerraum saß nur noch einer aus dem Freundeskreis – durchaus unmusikalisch und inzwischen ein angesehener Kinderarzt und Abgeordneter im sächsischen Mittweida – während alle anderen hinter der Bühne, teilweise mit den Resten des Stimmbruchs kämpfend, den Jägerchor aus dem Freischütz schmetterten.
Vieles wäre noch zu erwähnen: Meeresbrandung und Alpenglühen, die äußerst belebte Schlangengrotte in „der Reise um die Erde in 80 Tagen“, der Dukaten spendende Esel und der auf dem Rücken des Wirtes tanzende Knüppel aus dem Sack, das Klirren von Schneewittchens Sarg und die Mondstimmung beim feierlichen Schwur auf dem Rütli.
Heinz Hoffmann, inzwischen emeritierter Theater-Direktor, hat das Ganze mit Vergnügen an seine Kinder Koni und Gerhard, an Hans, an Sabine und Klaus weitergegeben. So möge es für die Enkel Friederike, Dora, Helene, Max, Pauline, Kilian und viele andere Heranwachsende eine Stätte der Kultur bleiben – allen mehr oder weniger guten Programmen und Angeboten eines multimedialen Zeitalters zum Trotz.