DAS PAPIERTHEATER
freut sich, diesmal mehrere, vor allem: weitere Autor/innen gewonnen zu
haben, um über das Preetzer
Papiertheatertreffen 2011 zu berichten. Dass einige Stücke deshalb
mehrfach
besprochen werden, macht die Sache nur bunter- wie die Vielfalt der
Inszenierungen und die unterschiedlichen Seh- und Hörweisen.
Eine Wanderung
von Willers Amtrup
Meine diesjährige Manöverkritik startet wie üblich mit der Klage
darüber, daß ich wieder einmal nur einen Teil der Vorstellungen habe
besuchen können, und der heimlichen Angst, daß mir dadurch das
Beste entgangen sein könnte. Daß ich mir diesen Frust dennoch immer
wieder zumute, spricht für die Güte des Erlebten.
Die Wanderung durch die verschiedenen Aufführungsorte begann mit zwei
fremdsprachigen Aufführungen mit viel, viel Text. Zuerst
Joe Gladwin mit seinem Paperplays
Puppet Theatre,
der eine eigene Version eines roten Piraten - „Red Rover“ – vorstellte.
Es ging in zehn bei offener Bühne rasch wechselnden Szenen um einen
(roten) Piraten, eine junge, in ihn verliebte Lady, ihre in einen
Polizeioffizier verliebte Zofe, eine Erpressung, eine klassische
Dreiecksgeschichte, eine Schlacht und schließlich natürlich um ein
Happy End. Gladwin hat das mit traditionellen, aber handkolorierten
englischen Druckvorlagen auf die Bühne gebracht; seine ruhige
Figurenführung habe ich schon in anderen Zusammenhängen gerühmt, und
das Überspielen kleiner Pannen zeigte den langjährigen Könner. Bei den
Dekorationen bestach mich besonders eine im Schiffsinnern spielende
Szene, bei der man den Wellengang draußen beobachten konnte. Im Grunde
aber lebt jede Vorstellung Gladwins von seiner Sprachgestaltung, die
zwar manchmal bei den Frauenrollen etwas exaltiert ist, aber nie sich
selber unangemessen in den Vordergrund spielen will. Er hatte für die
Zuschauer eine (etwas knappe) Szenenübersicht vorbereitet, die einen
leider an der entscheidenden Stelle im Stich ließ, weil es dort nur
hieß: „Alles wird aufgeklärt“. So konnte ich nur raten, daß eine neu
eingestellte Köchin „Mama mia“ sich als Mutter irgendeines der
Beteiligten entpuppt haben könnte – aber wessen?
Leider ganz ohne schriftliche Hilfestellung vollzog sich
Eric Poiriers „Don Juan aux Enfers –
Don Juan in der Hölle“.
Was hätte das für ein Vorstellungsgenuß sein können, wenn ich – man ?-
den 45 Minuten lang ununterbrochen in „franzenglisch“ gesprochenen Text
hätte verstehen können!! So kann ich nur aus der m.E. nur bedingt
logischen Vorankündigung im gedruckten Programm wiedergeben, daß das
Stück der Frage nachgehen sollte, ob man Herr seines Schicksals sein,
z.B. ob sich Don Juan in der Hölle einfach nur ausruhen oder gar wieder
verlieben könne. Die Vorstellung begann auf einer konventionellen
Urania-Bühne mit einer überzeugend stilisierten Wald-Kulisse von
Christiane Comtat, auf der sich zunächst ein turbulentes Hin und Her
von -zig verschiedenen Figuren abspielte. Diese Figuren, etwas über
handgroße Holzblöcke mit Linol- und Holzschnittdrucken von Poirier,
wurden von ihm sichtbar mit der Hand dauernd bewegt, verschwanden,
tauchten wieder auf, trumpften lautstark auf, kämpften miteinander –
nur eine Zuordnung war mir leider nicht möglich, zumal offenbar
wiederholt mythologische Anspielungen gebracht wurden. Die Drucke
selbst waren künstlerisch großartig gelungen und von großer
Vielfalt. Etwa zur Mitte der Vorstellung kippte das Proszenium nach
vorne um, es entrollte sich ein eng mit Figuren beklebter Vorhang mit
einem (nach meiner Deutung) Höllensturz, und das weitere Geschehen
spielte sich dann auf dem blanken Spieltisch ab, flankiert von zwei
Seitenkulissen mit Höllenflammen. Hier erschienen dann auch erotische
Figurinen, die augenscheinlich die ungebrochene Lust Don Juans anregen
sollten. Insgesamt eine von überschäumender Phantasie geprägte
Vorstellung, von Poirier überaus lebhaft und teilweise exaltiert
gesprochen und in eigener Person gespielt – ausgeprägter hätte
dieses eigene Spiel aber nach meinem Geschmack auch nicht sein dürfen.
Einen schönen Kontrast bot dann
Uwe Warrachs Papieroper am Sachsenwald
mit „Die Sache mit dem Stern“,
von ihm selber ein „etwas eigensinniges Papiertheater-Krippenspiel“
genannt. Die Zuschauer empfing bei eingangs offener Bühne eine in ihrer
Schlichtheit eindrucksvolle Wüstenkulisse mit einem sehr gut
ausgeleuchteten, sternenübersäten Himmel, die sich auch zu beiden
Seiten der Bühnenöffnung fortsetzte und damit ein Gefühl von Weite
erzeugte. In dieser Wüste zogen nun die drei Astrologen aus Syrien (die
„ Heiligen 3 Könige“ sind ja sozusagen ein Tippfehler der Religion) hin
zu dem Ort, an dem nach der Prophezeiung der Messias geboren werden
soll. Dort angekommen, treffen sie wegen der laufenden Volkszählung das
reinste Chaos an, übergeben ihre für den Messias gedachten Präsentkörbe
einer armen Tischlerfamilie und dessen Neugeborenem in einem Stall und
machen sich auf den Rückweg. Warrach hat seine Figurinen vielfach
altdeutschen religiösen Bilderbögen des 18. Jahrhunderts (u.a. Martin
Engelbrecht) entnommen und setzt sie geschickt einzeln und in Gruppen
mit ruhiger Figurenführung ein. Überzeugend seine Lichtgestaltung,
seine Straßenszenen und das Getümmel in Bethlehem, seine Viehherden,
die Szenen im Stall und der Rückweg in der in mehrere Ebenen
gestaffelten Kulisse. Ausgesprochen gelungen auch der vielfältige
Wortwitz des selbstverfaßten Librettos mit seinen Anspielungen und
Verfremdungen biblischer Texte, gipfelnd in einer Szene, in der
einer der Astrologen Maria das erbetene Horoskop für das Kind
verweigert, weil er ihr zwar seinen Aufstieg als „shooting star“, aber
auch sein trauriges Ende hätte prophezeien müssen. Insgesamt eine
schöne, lebhaft beklatschte Aufführung.
Auf die Vorstellung der im Vorjahr so gefeierten mexikanischen
Gruppe
Facto Teatro mit „Don Chico que vuela
– Don Chico will fliegen“,
diesmal bestehend aus 3 Spielern, war man allgemein besonders gespannt
– und selbst hochgespannte Erwartungen wurden erfüllt. Dargestellt wird
am Beispiel eines normalen Dörflers, der das beschwerliche Kraxeln über
Berge von einem Dorf zum anderen leid ist, der uralte Traum des
Menschen fliegen zu können – und sein (vorläufiges) Scheitern. Das
wurde von zwei Spielern auf einem schlichten Spieltisch vorgeführt,
während der dritte Spieler überwiegend für die Begleitung mit Musik und
Geräuschen (hervorragend sein Gackern und Kreischen von Tieren)
zuständig war. Die Gruppe hatte eine kurze Inhaltsangabe in deutsch
vorbereitet – die Handlung lief aber so plastisch ab, daß man sie auch
so ohne weiteres hätte verstehen können, zumal einer der Spieler sie
mit Beiträgen in gebrochenem Deutsch begleitete. Alles beginnt mit
einer spartanischen Kulisse mexikanischer Berge und eines bewegten
Flusses zwischen ihnen und der mühsamen Wanderung des Menschen in
dieser Umgebung. Der Wunsch zu fliegen ergibt sich fast zwangsläufig
und wird u.a. am Beispiel von Vögeln illustriert. Also macht sich unser
Protagonist in äußerst witzigen Szenen an die Vermessung und Verwiegung
von Hühnern aus dem Stall und anderen fliegenden Lebewesen, probiert
und verwirft Dutzende verschiedener Flügel, betreibt in Gestalt des
deutsch radebrechenden Mitspielers mit einer hinreißenden, nie
überzogenen Pantomime vorbereitende Gymnastik und muß dann doch wieder
feststellen, daß sein Flügelflattern nur dazu taugt, den Kehricht von
der Straße zu fegen. Dennoch startet er schließlich, über und über
behängt mit Gaben seiner Mitbewohner, von einem sehr schön stilisierten
Kirchturm aus zu seinem ersten Flug, der sein letzter sein wird. Denn
natürlich stürzt er ab, und wir sehen die Menschengruppen, die seinen
Sarg bei der Beerdigung begleiten. Die Aufführung lebte von der
Spielfreude und dem perfekten Zusammenspiel der drei offensichtlich
professionellen Akteure und wurde zu recht begeistert gefeiert.
Bei der nächsten von mir gesehenen Vorstellung schieden sich die
Geister. Während einige meiner Gesprächspartner, darunter „altgediente“
Liebhaber des Papiertheaters, die Aufführung rühmten, stieß sie bei
anderen auf mehr oder weniger starke Ablehnung. Es geht um
„La Belle au Bois Dormant - Version
Mode et Travaux 1979“ der Compagnie Volpinex.
Erzählt wird das bekannte Märchen vom Dornröschen, dessen Akteure durch
aus Modezeitschriften der Fa. Burda von 1979 ausgeschnittenen Fotos
dargestellt wurden. Da gibt es meist zu dritt auftretende junge Frauen
als Darstellerinnen der guten Feen, außerdem eine ziemlich streng
gekleidete böse Fee, weiter Dornröschen selbst zunächst als Baby, dann
als sommerlich beschwingte junge Dame immer mit einem Blumenstrauß in
der Hand und später als leicht bekleidete Liebhaberin eines Prinzen,
der stets seine Flinte im Arm und den Hund an seinen Beinen hat. Alle
diese Fotos der Akteure werden von dem Spieler Fred Ladoué an Stäben
von oben vor einer hellen Fläche, sozusagen der Bühne, bewegt und dabei
mit einer Camera gefilmt, die ihrerseits das Gefilmte auf eine
große Projektionswand überträgt und dort in ständig wechselnde
Hintergründe einspeist, die ebenfalls durchgehend aus Fotografien
bestehen. Das wird im vorbereitenden Programm mit Recht als
„raffinierte Projektionstechnik“ bezeichnet, und als technischer Laie
war ich schon erstaunt darüber, daß diese Hintergründe und die darauf
applizierten Figurenfotos sich nicht ständig miteinander vermischten
(zumal außerdem auch noch Untertitel in deutsch in die Projektion
eingefügt wurden). Trotz dieser Raffinesse halte ich das Experiment für
mißglückt. Ich habe schon früher – nämlich bei Per Brink Abrahamsens
Oldenburger „Ring“-Aufführung (vgl. „PapierTheater“ Nr. 12/1999) und
bei der Bremer Aufführung des „Geliebten Adonis“ (vgl. „Das
PapierTheater“ Nr. 3/3) – beklagt, daß Projektionen einer
abgefilmten Aufführung zwangsläufig nur flache Wirkungen ergeben und
daß die reizvolle Tiefe einer „normalen“ Aufführung verloren geht; ich
kann mich jetzt nur wiederholen. Hinzu kam im vorliegenden Falle, daß
die extrem exaltierte Selbstdarstellung des Spielers Ladoué mich doch
erheblich störte. Aber wie eingangs gesagt: es gab durchaus
gegenteilige Meinungen – ich bin gespannt auf eine Widerlegung meiner
Einschätzung.
Anschließend wurde es zwar nicht inhaltlich, aber als Spiel erheblich
ruhiger:
Römers Privattheater mit
„Vasantasena“,
von Horst Römer bei der Vorstellung selbst als Stück voller
Verwirrungen bezeichnet. Eine erfreulich umfangreiche schriftliche
Inhaltsangabe half, dieses altindische Drama zu verstehen: Der fiese
Bruder eines tyrannischen Königs verfolgt eine liebenswerte Bajadere
namens Vasantasena, zwischen der und einem völlig verarmten, weil zu
freigiebigen Kaufmann sich bei einem zufälligen Treffen eine Zuneigung
entwickelt. Zunächst gelingt es, den Nachstellungen des Königsbruders
zu entgehen, doch als alle Beteiligten am nächsten Tage am Tempel des
Liebesgottes zusammentreffen – der Kaufmann, um für das Liebeserlebnis
zu danken, Vasantasena, um ihn dort zu treffen, der Königsbruder, um
den Beistand des Gottes zu erbitten -, kommt es zu einem dramatischen
Konflikt, an dessen Ende Vasantasena, vom Königsbruder gewürgt, wie tot
am Boden liegt. Da der Königsbruder die Schuld auf den Kaufmann
schiebt, wird dieser von dem tyrannischen König zum Tode verurteilt und
erst in letzter Sekunde gerettet. Denn parallel dazu verläuft ein
zweiter Erzählstrang über einen Hirten, der neuer König werden soll und
deshalb vom Tyrannen verfolgt wird, aus dem Gefängnis entfliehen kann,
an der Hinrichtungsstätte erscheint, den Tyrannen entthront und die aus
ihrem Scheintod erwachte Bajadere mit dem Kaufmann vereint.
Unter Verwendung alter Illustrationen hatte Horst Römer zu den 7
Bildern der Aufführung rundum gelungene Dekorationen mit großer
Tiefenwirkung geschaffen, von denen mich besonders der Palast des
Königs, der Tempel des Liebesgottes und eine Straßenszene
beeindruckten, in der sich ein wildes Durcheinander verschiedener
„Verkehrsteilnehmer“ abspielte. Die dort aufeinander treffenden Gruppen
konnte man gar nicht so schnell richtig würdigen: hochbepackte
Lasttiere, Kutschen mit verschiedenen Insassen, ein
Gefangenentransport, aufragende Militärpatrouillen, die Flucht des
gefangenen Hirten, Sänften, Sonnenschirme – wunderbar gemacht! In der
Rückfront des Liebestempels öffneten sich bei mehreren Gelegenheiten
Türen, hinter denen vier Liebesdienerinnen auf Kunden warten und sie
hüfteschwenkend zu verführen versuchten – ein gelungener Spaß. Nimmt
man die wirklich gute Ausleuchtung der Szenen – u.a. ein
eindrucksvolles Gewitter – hinzu, so kann man die Aufführung nur in
jeder Hinsicht überzeugend nennen.
Ein wenig Schwierigkeiten hatte ich zeitweilig mit
„Sherlock Holmes: Das
Familien-Ritual“, präsentiert von Haases Papiertheater.
Es geht in einem englischen Landsitz um das plötzliche Verschwinden
eines Butlers, den seine Herrin gerade zuvor beim Schnüffeln in
Familienpapieren erwischt hatte, und eines Hausmädchens. Was man auf
der Suche nach Ihnen auf dem Grundstück findet, ist ein Jutesäckchen
mit „Steinen“ und Metallteilen. Holmes und Dr. Watson finden – wie vor
ihnen schon der Butler – heraus, daß die Papiere eine uralte,
geheimnisvoll verschlüsselte Wegbeschreibung zu einem Schatzversteck
enthalten, gehen den Hinweisen minutiös nach und gelangen schließlich
zu einem allen völlig unbekannten Keller in einem der Gutsgebäude. Dort
waren vor ihnen auch der Butler und das Mädchen gelandet und hatten
eine Schatztruhe entdeckt, sich aber alsbald zerstritten mit dem
Ergebnis, daß der Butler das Schatzversteck nicht mehr lebend verlassen
konnte und das Mädchen auf der Flucht das vermeintlich wertlose
Säckchen wegwarf. Holmes ermittelte dann auch insoweit die Wahrheit:
die „Steine“ waren Edelsteine und die Eisenteile Reste einer
Königskrone. Zu diesem Geschehen hatte Martin Haase etliche ganz
wundervolle Bilder geschaffen, die stimmungsvoll und absolut
überzeugend (z.T. unter Verwendung von Schwarzlicht) ausgeleuchtet
waren. Die nächtliche Suche im Park, der Gang auf der Wendeltreppe
hinunter in den unbekannten Keller, die ganz geheimnisvoll z.T. als
Schattentheater dargestellten dortigen Aktivitäten des Butlers und des
Mädchens – all’ das hätte nicht besser präsentiert werden können. Meine
eingangs erwähnten Schwierigkeiten beruhten darauf, daß die Vorstellung
relativ viele und nicht ganz kurze Umbaupausen aufweist – wenn daran
noch ein wenig gearbeitet werden könnte, wäre sie vollkommen.
Robert Poulter zu loben heißt Eulen nach Athen zu tragen – aber was
soll man anderes tun? Die Geschichten, die er erzählt, mögen manchmal
verworren sein - ihre Gestaltung macht alles wieder wett. Diesmal
bei
„The Mummy’s Purse – Die Geldbörse der
Mumie“
hielt sich die Verwirrung in Grenzen: Zwei Archäologen entdecken in
Ägypten das vollständig erhaltene Grab einer Königin und zerstreiten
sich dann. Einer von ihnen findet die zurückgelassene Geldbörse der
Königin, ohne die sie ihr Leben nach dem Tode nicht weiterführen kann.
Mit Hilfe von drei altägyptischen Göttern, darunter der Totengott
Anubis, ein Mensch mit Hundekopf, gelingt die Wiedererlangung der Börse
(„purse“) – zugleich trifft ein Fluch („curse“) denjenigen der
Archäologen, der es gewagt hatte, die Börse an sich zu nehmen – für
mich blieb nur offen, wen von beiden nach der Logik der Geschichte es
nun traf. Aber wie gesagt: ich muß bei Robert Poulter nicht alles
verstehen, um ihn trotzdem hinreißend zu finden. Vierzehn rasant
gewechselte Szenen in 30 Minuten – wer schafft das sonst? Da gab es
eindrucksvolle ägyptische Landschaften, schöne Hafenszenen, Schauplätze
auf einem Schiff, im Museum und auf dem Nil – alle wie immer gut
ausgeleuchtet. Gelungen auch viele bewegliche Figuren sowie
Figurengruppen und kleine Szenen mit Witz, etwa die Ticketkontrolle in
der Eisenbahn, bei der sich nacheinander die Abteiltüren öffnen und
schließen. Wie gewohnt langer berechtigter Beifall.
Nach der nächsten Vorstellung sagte derselbe alte Freund, mit dem ich
mich über die Dornröschen-Aufführung nicht einigen konnte: „Das war
kein Papiertheater!“ In Teilen hatte er damit recht – und doch war es
für mich eine der berührendsten Vorstellungen dieses Treffens.
Gemeinsam mit den Musikern Helena und Jiri auf Geige und Gitarre
präsentierte
Hana Voriskov� and Muziga: „The Pear
Tree in the Field“,
acht verschiedene Miniaturen, die sie „Videoclips aus Papier“ nannte
und die alle um das Thema menschlicher Beziehungen kreisten. Die beiden
Musiker spielten dazu jeweils zu Beginn thematisch passende Stücke, die
im Programm als „traditionelle tschechische Folksongs“ angekündigt
wurden – wenn das stimmt, was ich nicht beurteilen kann, sähen wir mit
unserem im Frühtauzuberge lustwandernden Müller ziemlich alt aus; denn
diese Musik war musikalisch höchst anspruchsvoll und zudem virtuos
vorgetragen. Hana Voriskov� begann mit einer Miniatur über die Trennung
zweier Menschen, indem sie die „Bühne“, eine nur mit einem Herz bemalte
Papierfläche in der Mitte zerschnitt, die beiden Hälften dann immer
weiter auseinanderzog und an ihren Rändern zwei stilisierte Menschen
erscheinen ließ, die sichtlich vergeblich versuchten zueinander zu
gelangen, zumal sich zwischen den beiden Bühnenhälften dann auch noch
Wasser ausbreitete. Der Eindruck, den dieses Stück, verstärkt durch den
konzentrierten Ernst der Spielerin, auf mich machte, läßt sich
mit dürren Worten im Grunde nicht beschreiben. Das war Papiertheater!
Es folgte mit einer neuen Bühne bzw. Kulisse ein Stück über ein die
Einberufung ihres Verlobten zum Militär beweinendes Mädchen unter einem
Birnbaum („The Pear Tree in The Field“), bei dem nacheinander ein
Reiter und ein Wanderer immer kleiner werdend einen Berg hinauf
stiegen. Anschließend etwas, was tatsächlich kein Papiertheater war,
nämlich die Vorführung von Zauberkünsten, mit denen eine Frau einen
schönen Mann zu erringen versucht – das hatte, wie gesagt, mit
Papiertheater nichts zu tun, war aber gänzlich unaffektiert vorgeführte
schöne Pantomime. Durchaus zum Papiertheater gehörte das nächste Stück
über diese provozierte Trennung eines Liebespaares durch üble Nachrede
und deren Wiederannäherung, nachdem die die Bühne beherrschenden, böse
aussehenden „Lästermäuler“ gestopft waren. Weitere Themen
waren ein Dank für das Leben, das Anlocken eines Mannes wie mit dem
Duft einer Erdbeerblüte, das Versteck eines Liebespaares in einem
Kornfeld und die mit vielen verschiedenen Bildern (z.T. in der Art
eines Leporellos) illustrierte Jagd bestimmter Männer – „Sammler“ –
nach möglichst unschuldigen Frauen. Alle Akteure (Musik: Helena
Vedralov� und Jiri Vedral) bekamen starken, berechtigten Applaus.
Mit dem Stichwort Leporello sind wir dann bei der letzten von mir
besuchten Vorstellung angelangt,
„Der Fall Don Giovanni – Die
Wahrheit“, gespielt von Anna Herbst und Peter Schauerte-Lüke.
Auch hier hörte ich vorher einige unterschiedliche Einschätzungen, und
in der Tat ist die Figurenführung auf der stark vergrößerten spanischen
Bühne mit nur zwei unterschiedlichen Kulissen etwas einfach. Die dahin
gehende Kritik übersieht aber das Eigentliche dieser Aufführung, ihren
inhaltlichen, musikalischen und darstellerischen Witz. Die Wahrheit
sei, so wird behauptet, daß Mozarts Don Giovanni alles andere als ein
Frauenheld und vielmehr nur die Projektion eines viele Generationen
zuvor lebenden Vorfahren gewesen sei, der nunmehr danach strebt,
verjüngt wieder Liebesabenteuern nachgehen zu können. Damit setzt ein
munteres Verwirrspiel verschiedener Beteiligter aus verschiedenen
Jahrhunderten ein: der Comtur mutiert zum Vorfahr, Don Quixote taucht
erstaunlicherweise auf, wird von Kardinal Richelieu verfolgt und singt
statt Mozartmelodien solche aus dem Musical „Der Mann von La Mancha“,
Dulcinea und Elvira werden praktisch austauschbar. Ziel des ganzen
Durcheinanders ist, den längst verstorbenen legendären Vorfahr mit
Hilfe von Dr. Sauerbruch in den lebenden Don Giovanni zu verpflanzen.
Das aber geht aus doppeltem Grunde schief: Dr. Sauerbruch operiert
irrtümlich Don Quixote statt Don Giovanni, und ein Stromausfall während
der Operation hat zur Folge, daß zwar ein neuer Frauenheld entsteht,
aber nicht Don Giovanni II., sondern – Silvio Berlusconi. Diese
haarsträubende Geschichte spielen und vor allem singen Anna Herbst als
Zofe der Donna Elvira und Peter Schauerte als Leporello lebhaft, aber
nie überzogen. Anna Herbst ist ausgebildete Sängerin mit schönem Ton,
und Peter Schauertes Gesang höre ich nach wie vor gern. Nicht nur im
gesprochenen Text, sondern gerade auch in den Gesangsszenen steckte
eine Menge ausgesprochen gelungener Witz. Da wird die auf Don Giovanni
den Jüngeren gemünzte Registerarie umgetextet – in Italien sei gar
nichts gewesen und auch in Deutschland nichts als Spesen -, da fordert
Zerlina den widerstrebenden Giovanni auf, ihr seine Hand, sein Leben zu
reichen, da besingt Elvira unter einem Fenster den dahinter vermuteten
Giovanni – beides eben Konsequenz dessen, daß Don Giovanni, wie es
heißt, an gebrochener Mannbarkeit litt. Ich habe mich köstlich amüsiert
und jedenfalls in meiner Vorstellung das Publikum auch.
Wie immer zum Schluß: Nächstes Jahr in Preetz!!
Mensch und Pappe
von Uwe Warrach
In der Haupt-Überschrift klingt es schon an: Diesmal fielen mehrere
Papiertheaterspieler/innen auf, die ihren kleinen Gestalten Konkurrenz
machten, indem sie selbst vor ihre Bühnen traten und agierten. Nicht
ganz neu, aber doch recht originell, so fand ich das bei Haases
„Sherlock Holmes“, Peter Schauerte-Lükes „Don Giovanni“ und Carsten
Niemanns „Brigant“, und sie waren ja nicht die einzigen. Das
Heraustreten aus der kleinen Bühne scheint ebenso einer Art Sehnsucht
des Papiertheaterspielens zu entsprechen wie Projektionen auf große
Flächen- mit den dazugehörigen Risiken.
„Der Brigant“
Figurentheater Liselotte – Carsten Niemann, Berlin
Das Spiel ist das Ziel
Auf dem Begrüßungstablett stehen keine Schnaps-, sondern Operngläser,
weil auch die Bühne nur (Groß)postkartengröße hat. Dort geht es
allerdings hoch her, mit der Räubergeschichte über Alessandro
Massaroni, der wohl ebenso Volks- wie Frauenheld als auch, aus heutiger
Sicht, so was wie ein Terrorist war. Auf Pollock’s Bühne und im
viktorianischen Melodram geht es freilich nicht allzu wüst zu, sondern
eher romantisch und komisch. Dafür sorgt schon allein Carsten Niemanns
Improvisierkunst: Wichtiger als der Inhalt scheint bei ihm das Spiel.
Er lässt nicht durchschauen, ob er jetzt wirklich eine Figur verlegt
hat oder die Kulisse nicht finden kann, ob das zur Dramaturgie gehört
oder jetzt gerade wieder eine Panne ist, die Vorbereitung zu einem
neuen Gag oder ein sich anbahnendes Desaster. Er ist allgegenwärtig,
kriegt das alles hin, spielt, wie gesagt, selber mit, und einmal
dachte ich, es sollte mich nicht wundern, wenn jetzt gleich eine
Figurine gegen diese Behandlung protestiert. Viel verdienter Beifall.
„Winnie will woanders schlafen“
Hellriegels Junior – Willem Klemmer, Gerlinde Holland, Kiel
Ein Hase wie ich und du
Der kleine Hase, dem es zu Hause mit den vielen Geschwistern zu
drängelig ist, klappert die Wohnungen der Waldtiere nach einem
schöneren Schlafplatz ab, aber überall stört ihn irgendetwas- das Bett
des Igels piekt, die Eule liest die halbe Nacht beim Lampenlicht, und
das Eichhörnchen knackt lange sein Abendessen. So ist Lämpchen
froh,
als er wieder zu Hause ist. Auf schönen Zeichnungen von Gerlinde
Holland dargestellt und von ihr und ihrem Enkel Willem Klemmer
gefühlvoll und mit Witz in Szene gesetzt, begeistert es nicht nur
Kinder. Technisch interessant: die schrägen Pappstreifen (an Stelle von
Drähten), an denen die Figurinen bewegt werden. Der sehr junge Sprecher
lässt die Not des Hasen ebenso anklingen wie die Freude über die
jeweilige Einladung und die folgenden Enttäuschungen über die
mangelhaften Unterkünfte. Und die Moral kommt nebenbei auch rüber.
„Das Feuerzeug“
Papiertheater Pollidor – Barbara und Dirk Reimers, Preetz
Barbara, Dirk und der Hund
Barbara und Dirk Reimers’ Pollidor’s arbeitet diesmal überwiegend mit
traditionellen Bildern, nur ihre Hunde sind endlich aus dem wirklichen
Leben auf die Bühne gestiegen. Die Geschichte vom Soldat und der Hexe,
deren Feuerzeug ihm erst ein kurzfristiges Vermögen einbringt, am Ende
die Prinzessin zur Frau, ist ja nicht nur ein Kindermärchen, sondern
auch eine Fabel über die Vergänglichkeit der Freundschaft, wenn der
Wohlstand nachlässt und vielleicht auch über die unbeirrbare
Pflichttreue des Hundes. Die Aufführung ist leise, Hans Christian
Andersens Stil angemessen, aber mit mehr Humor als bei dem immer etwas
melancholischen Dänen, der diesmal wenigstens ein Happy end
zuließ.
Ein liebevoll gestaltetes Bühnenbild versetzt uns in ein Städtchen
seiner sympathischen Heimat. Live gesprochen, decken die verstellten
Stimmen alle Mitwirkenden perfekt ab; ausnehmend viel Spaß scheinen
Dirk dabei die Hunde zu machen, besonders der große.
Spannung, Stille und Applaus
von Brigitte und Lothar Rohde
„The Pear Tree in the Field“
Hana Voriskov� and Muziga – Hana Voriskov�, Helen Vedralov�, Jiri
Vedral, Tschechien
Mit Spannung erwarten wir am Freitagabend unsere erste Aufführung beim
24. Papiertheatertreffen. Zunächst sind wir überrascht, dass weder Hana
noch ein Papiertheater im Stall, einem idealen Spielort, zu sehen
sind. Stattdessen singen und spielen Helena Vedralov� (Gesang,
Geige)
und Jiri Vedral (Gitarre) vom Liebesleid eines jungen
Mädchens. Jetzt
erscheint Hana und zeigt in Bänkelsängermanier den deutschen Text.
Was dann folgt, verzaubert die Betrachter nachhaltig. Neun Lieder
werden mit variantenreichen Spieltechniken auf rohen Kartonbühnen oder
einem auf dem Kopf getragenen Zylinder in Bilder umgesetzt. Die
Schlichtheit der Strichfiguren und Hanas Körperspiel verstärken die
dargestellten Liebeskonflikte.
Zu dem Lied „Mein Herz ist in großen Kummer geraten …. Es
schmerzt
mich wie ein Messerstich, daß ich dich nicht haben kann“, zerschneidet
sie mit einem Messer die Kartonbühne zwischen den Liebenden.
Eine Liebe gerät in Gefahr, durch Klatschweiber zerstört zu
werden.
Sprechblasen fliegen aus dem Schandmaul der einen in das
Ohr der
Nachbarin. Die roten Liebesherzen färben sich schwarz. Erst als
Mund
und Ohr mit Papier verstopft werden, kann die Liebe erneut erblühen.
Die Liebenden wenden sich wieder einander zu.
Die Symbolik des Don-Juan-haften Jungfernkranzsammelns erzählt von
weiteren Liebesfreuden und Liebesleiden.
Ein Reigen einfallsreicher Szenen mit stimmiger Musikbegleitung macht
uns still und lässt uns laut applaudieren.
„Sherlock Holmes: Das Familien-Ritual“
Haases Papiertheater – Sieglinde und Martin Haase, Remscheid
Gruselstimmung bei Blitz und Donner und flackerndem Kaminfeuer
verbreiten Martin und Daniel Haase mit dem Kriminalstück nach Sir
Arthur Conan Doyle. – Von wegen: „Mein Name ist Ha(a)se…“ - die beiden
wissen genau, wie sie Sherlock Holmes und Dr. Watson Licht ins Dunkel
bringen lassen – und machen es spannend, mit schönen selbstentworfenen
Szenenbildern!
Auf offener Bühne sieht der Zuschauer das rätselhafte Verhalten des
Butlers Brunton,die –ob seines Verhaltens ratlose- Lady Musgrave, die
hilflosen Polizeibeamten und die gewitzten Spurensucher Holmes und
Watson.
Wunderbar: die Szene auf der Brücke bei der Suche im Fluss mit
typisch
englischem Nebel (aus Haases Nebelmaschine üppig produziert..), die
Situation im Restaurant mit dem Tee servierenden Dresdner
Schokoladenmädchen oder die Beweisaufnahme im Schlossgarten mit Lupe
und Messlatte bei Vogelgezwitscher. Und nicht zu vergessen: Die
Wendeltreppe, die in beeindruckender Draufsicht zur Lösung des Falles
in den Keller hinab führt.
Bei den zum Teil langandauernden Szenenwechseln werden die Zuschauer
bei geschlossenem Vorhang und spannender Musik zum „Lauscher an der
Wand“.
Der Inhalt eines aus dem Fluss gefischten Beutels -rostige Metallstücke
und bunte Glasscherben- entpuppt sich letztendlich als die lange
vermisste Krone Englands. Reizvoll ist auch das Schattentheater, das
den Zuschauer bei der Rekonstruktion des Falles dabei sein lässt, wenn
der Butler Brunton von seiner Geliebten, dem Hausmädchen, umgebracht
wird, als
er ihr Geld aus der Schatzkiste reicht und sie ihn - aus enttäuschter
Liebe- ermordet und im Keller zurücklässt.
Wie schön, dass bei Haases das Papiertheater-Spiel zum Familien-Ritual
wird!
„Die Sache mit dem Stern“
Papieroper am Sachsenwald – Uwe Warrach, Reinbek
Noch ehe die drei Weisen aus Syrien, Kaspar, Melchior und Balthasar,
das Kulissengebirge durchziehen, nimmt der Zuschauer entzückt die
glitzernde Sternenszenerie über dem Morgenland wahr und wird von einer
wunderbar wehmütig-verheißungsvollen Musik mit ins Geschehen gezogen.
Man schreibt das Jahr Null, die drei Astrologen folgen einer
Prophezeiung, das biblische Volk einer Aufforderung zur Volkszählung.
Es geht turbulent zu auf Straßen und Plätzen. Die drei Weisen, müde von
der langen Reise und voller Zweifel an ihrer Vorhersehung, geraten in
den Strudel der biblischen Geschichte.
In farbenprächtigen Bildern zeigt Uwe Warrach lebhaftes Basartreiben,
Hirten mit ihren Herden und schließlich die Stadt Bethlehem, die keinen
Platz mehr hat für Herbergssuchende. Immer wieder dabei: die
orientalisch-geheimnisvolle Musik - und von Anbeginn: der
Stern, dem
die weisen Männer nachfolgen, der Stern, der ihnen den Weg zeigen soll
zum neuen König der Juden, dem Messias.-
„Vielleicht ist alles nur eine mittelmäßige Supernova, alles nur
Zufall?“ fragen sie sich. „Die Astrologie ist keine Wissenschaft“, sagt
Balthasar, „die haben wir uns ausgedacht. Sterne und ihre Kreise sind
Gottes Werk. Den Stand der Sterne zu berechnen ist Mathematik.“
Immer wieder deckt sich das Erlebte zur Verwirrung oder Bestätigung der
drei Weisen mit alttestamentarischen Vorhersagen.
Sie wundern sich über die Hirten des nachts auf dem Felde („Viehmarkt,
mitten in der Nacht?“), sie werden auf die Heilige Familie aufmerksam,
auf Josef und “wie war doch gleich ihr Name?“, die ihre letzte
Habe
für eine Bleibe in einem Stall ausgeben. Das erregt ihr Mitleid,
und
es begibt sich also, dass Jesus („das pfiffige Kerlchen“) und seine
Eltern („Ob der Alte wohl der Vater ist?“) von ihnen beschenkt werden
mit Weihrauch und Myrrhe, die die weisen Männer eh‘ nicht wieder mit
nach Hause nehmen wollen („Wir sagen, wir hätten den neuen König
gesehen und beschert.“).
Balthasar trifft auf Lukas (vom “Bethlehemer Generalanzeiger“), der auf
Quirinius schimpft und vor Herodes warnt. Kaspar und Melchior,
die die
Gaben in den Stall gebracht haben, kommen wieder mit der Bitte Marias
um ein Horoskop für ihren kleinen Sohn. - Voller
Selbstzweifel greift
Balthasar nach der Hand des Kleinen. Er sieht denselben Stern, der ihn
und seine Gefährten nach Bethlehem geführt hat und weissagt Maria, dass
aus ihrem kleinen Sohn einmal ein „Shooting Star“ werden wird, „ein
Erwählter mit großer Message, etwas eigensinnig und dickköpfig.“-
Seinen Begleitern offenbart er noch, was er der glücklichen Mutter
nicht sagen wollte: dass aus dem Jungen ein wunderlicher Herumtreiber,
Scharlatan, Raufbold wird und, dass Soldaten ihn schließlich holen
werden.—Balthasar will nicht wissen, wie Jesu Schicksal weiter verläuft.
In Uwe Warrachs Geschichte werden die drei Sterndeuter nicht so recht
schlau aus dem Erlebten und beschließen, es für sich zu behalten.
Es geht eben vieles über den menschlichen Horizónt.
La Belle au Bois dormant Version Mode
et Travaux 1979
Compagnie Volpinex – Fred Ladoué, Frankreich
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding … auf einmal spürt man nichts als
sie.“ Hofmannsthals Worte aus dem „Rosenkavalier“ schweben
über Fred
Ladoues Adaption von Dornröschen, das als „La belle
au bois dormant“
von Charles Perrault lange vor der Druckfassung der Brüder Grimm
erschien. Fred verspricht in charmantem Französisch, nachdem er im
Rüschenhemd theatralisch die Zuschauer empfängt, eine Präsentation von
3 Akten zu je 5 Minuten. Damit wir seine Vorgabe überprüfen können,
stellt er eine Eieruhr. Nach jedem Klingeln wird der nächste Akt
ausgerufen. Die eigentliche Handlung wird zunächst von 3 Models aus
Modezeitschriften von 1979 bestimmt. Sie zieren sich als Feen vor einem
grünen Bühnenhintergrund. Life aus 2 Kameras, in greenbox-Technik
zusammengesetzt, wird das Bild auf eine Leinwand gebeamt.
Bewundernswert ist die Souveränität, mit der der Hintergrund als
Leporello und die 3 Feen im Vordergrund gleichzeitig für die jeweilige
Kamera bewegt werden. Dazu noch die durch pantomimisches Gestikulieren
verstärkten französich-deutschen Erläuterungen. Die Zuschauer verfolgen
dauerschmunzelnd mit hoher Aufmerksamkeit diese „comedie francaise“.
Wie bekannt, fällt Dornröschen in einen 100-jährigen Schlaf. Diese 100
Jahre zählt Fred genüsslich hoch, kommt aber nur bis 80, da
kündigt
der Wecker das Ende der vorgegebenen Zeit an.
(„Auf einmal spürt man nichts als sie.“) Obwohl Dornröschen noch
schläft, werden wir eindringlich aufgefordert, das Theater nun zu
verlassen.
Wir bleiben stur und erzwingen einen vierten Akt ohne Zeitlimit.
Endlich durchdringt ein Prinz problemlos die Hecke aus
Blumentöpfen
und weckt seine Prinzessin. Diese stellt erschreckt fest, dass
ihr
Kleid nach 100 Jahren nicht mehr der Mode entspricht und zieht
sich
für das Happy-End um.
Die Zuschauer applaudieren begeistert dieser erfrischenden
Interpretation, wenn auch das Papiertheater wesentlich durch
elektronische Präsentationsmedien unterstützt wurde.
Olaf Christensen – Aus der Sicht eines Papiertheaterspielers:
„Vasantasena“
Römers Privattheater – Motoko und
Horst Römer, Wildeshausen
Bollywood in Preetz ist das, was den Zuschauer anspringt, wenn sich der
Vorhang von Römers Privattheater zu „Vasantasena“ öffnet.
Dieses Stück ist in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit, die das
papiertheatertechnische Können der Familie Römer unter Beweis stellt.
Da ist zunächst das zehnaktige Drama mit verworrenem Inhalt aus dem
altindischen Sanskrit, das auf 45 Minuten in Zeit und Umfang reduziert
und in eine flüssige Handlung transponiert werden musste.
Räumliche Tiefenwirkung der wie die Figuren selbst gestalteten Kulissen
lassen das Stück zu einem optischen Genuss werden, der durch die ein
paar genau auf den Punkt eingesetzte mechanische Spezialeffekte in
bester Manier ergänzt wird.
Dazu gehört beispielsweise das immer mal wieder auftauchende
„Oben-Ohne“- Damenballett, dem der begonnene Bauchtanz bis auf die
Schlussszene immer wieder versagt bleibt.
Passend zur optischen Inszenierung der akustische Eindruck, bei dem
gekonnt mit Musik und der passenden - bisweilen recht geschraubt
klingenden - Sprache jongliert wird.
Neben der technischen Ausstattung überzeugt auch die Dramaturgie, die
die ineinander geflochtenen Handlungsstränge der Originalgeschichte
nachvollziehbar zusammenführt und die Spannung bis zum Höhepunkt und
Schluss der Geschichte stets zu steigern in der Lage ist.
Das Ende der Geschichte um Liebe, Intrigen, Ränke und Freiheitskampf
ist dann auch wie ein echter Bollywood-Film: das Gute siegt, viele
Figuren präsentieren sich glücklich im Schlussbild – und in diesem Fall
auch im Zuschauerraum, in dem der Applaus die Begeisterung des
Publikums deutlich zum Ausdruck bringt.
„Sherlock Holmes: Das Familien-Ritual“
Haases Papiertheater – Sieglinde und
Martin Haase, Remscheid
„Sehen Sie mal, was ich gefunden habe!“
Mit diesen Worten leitet Meister Haase, durch Calabash-Pfeife und
Holmes-Mütze als Meister-Detektiv kenntlich, das Stück ein und übergibt
seinem Assistenten Dr. Watson einen Sack mit Erinnerungsstücken und das
Wort.
Der Vorhang des mit zwei Hasenköpfen dekorierten Urania-Proceniums
öffnet sich, um den Blick auf einen gewitterumtosten englischen
Herrensitz freizugeben, dessen räumliche Tiefenwirkung nur noch von dem
realistisch dargestellten Gewitter optisch und akustisch übertroffen
wird.
Schon gleich in der ersten Szene wird der Zuschauer gewahr, dass ihn
hier eine Fülle von Spezialeffekten erwartet, die von Kaminfeuer über
dichten Nebel bis hin zum Perspektivwechsel einer sich hinab windenden
Wendeltreppe geht, die der Zuschauer mit den Protagonisten aus der
Vogelperspektive hinuntergeht.
Der technische Aufwand hat seinen Preis im nicht allzu rasanten
Kulissenwechsel, der dem Zuschauer aber durch interessante
Zwischenvorhänge und Hörspielsequenzen verkürzt wird.
Die für’s Papiertheater herausragende Inszenierung mit
fotorealistischen Figuren, stimmigen Kulissen und der akustischen
Einbindung der Familie Haase als Sprecher in der ebenfalls hochwertigen
Tonaufnahme, bilden den Rahmen, in dem Sherlock Holmes einen seiner
spannendsten Kriminalfälle in nur 30 Minuten lösen lässt.
Aber nicht nur auf und hinter der Bühne spiegelt sich die
Professionalität von Haases Papiertheater wieder, sondern beim
Zuschauerservice, wo auf Wunsch neben der üblichen Kurzfassung nach dem
Stück auch noch einmal eine Fall-Lösung in englischer Sprache gereicht
wird.
Wer wissen möchte, was das Verschwinden des Butlers, der hysterische
Zusammenbruch des Zimmermädchens, das Familienritual selbst und die
englische Geschichte miteinander zu tun haben, dem sei diese Aufführung
wärmstens empfohlen.
„Beate und das Biest“
Svalegangens Dukketeater – Per Brink
Abrahamsen, Sören Mortensen, Dänemark
„Beate und das Biest“ ist das bekannte Märchen um die Schöne mit der
entsprechenden hässlichen Kreatur in der zweiten Hauptrolle, von dem in
der Inszenierung auch nicht wesentlich – abgesehen von Beginn und Ende
in einem Museumsschloss der Gegenwart - abgewichen wird.
Viel Aufwand betreibt das Svalegangens Dukketeater, um mit extra
gefertigten Kulissen und Figuren die Geschichte mit einer exzellenten
Tiefenwirkung lebendig werden zu lassen.
Neben einer das Bühnenbild in bester Weise unterstützenden
Lichtsteuerung sind es auch die vielen kleinen Nebeneffekte wie das
Treppensteigen, das Gehen durch Türen und die z. T. beweglichen Arme
der Figuren, die das Anschauen des Stück zu einem optischen
Leckerbissen machen.
Für den Ton wurden auf dem entsprechenden Träger nicht weniger als acht
Stimmen vereint.
Da die deutsche Erzählstimme die dänische Original-Tonspur in fast
gleicher Lautstärke überlagert, ist es leider bisweilen akustisch
schwierig zu folgen.
Dafür aber sind die einzelnen Szenen ausgezeichnet gestaltet, so dass
sich der Handlungsfluss zumindest optisch mühelos verfolgen lässt.
Ein wenig langatmig geriet die wiederholte Kernfrage des Biests an die
Schöne, ob sie es nicht heiraten wolle, da jedes Mal erst ein
Kulissenwechsel vollzogen wird.
Insgesamt aber eine handwerklich ausgezeichnet umgesetzte
Theateraufführung, die sehenswert ist.
„Die Sache mit dem Stern“
Papieroper am Sachsenwald – Uwe
Warrach, Reinbek
„Die Sache mit dem Stern“ verhält sich natürlich aus Uwe Warrachs Sicht
ganz anders als in der offiziellen Geschichtsschreibung.
Doch bevor er sich auf seiner Tischbühne anschickt, die Geschichte aus
dem Jahre Null richtig zustellen, erfolgt zunächst der kurze Hinweis,
dass Papierkrippen wohl die eigentliche Keimzelle des Papiertheaters
sind.
Die Richtigkeit seiner These untermauert Uwe Warrach dann auch gleich
mit seiner Art, altdeutsche Kripppenfiguren und selbst gemalte Kulissen
zu einer Geschichte zu verbinden, die aus den Heiligen Drei Königen
drei Astrologen macht, an denen der Selbstzweifel hinsichtlich des
Auftauchens des neuen Königs und Messias nagt.
Die Inszenierung zusammen mit der musikalischen Untermalung „Auf einem
Persischen Markt“ lässt einen schnell in die Geschichte eintauchen und
mit den drei Hauptdarstellern fühlen.
Abgespannt und ohne den nötigen Erfolgsglauben wollen die drei nur
wieder zurück nach Hause und dem Chaos der gerade stattfindenden
Volkszählung entgehen.
Nach einer mit dem typischen Warrach’schen Wortwitz geführten
Diskussion ist man gewillt, einer armen Tischlerfamilie mit frisch
entbundenem Nachwuchs die für den neuangekommenen Messias gedachten
„Präsentkörbe“ zu überlassen und sich schleunigst auf den Heimweg zu
machen.
Man wird die Geschenke los, seitens der Mutter noch zur Erstellung
eines nur bedingt positiven Horoskops für den neuen Erdenbürger
genötigt und macht sich wieder auf die lange Reise durch die von Uwe
Warrach stimmungsvoll in Szene gesetzte nächtliche Wüste unter
glänzendem Sternenhimmel, bis einen das fahle Neonlicht des
Klassenzimmers zurück in die Preetzer Wirklichkeit holt.
Ein gelungenes Papiertheaterstück, dessen Text durchaus auch die
Hörspiel-Landschaft bereichern würde.
„The Mummy's Purse“
Robert Poulter’s New Model Theatre
Schon der Titel spiegelt mit Wortwitz jenen Humor wider, für den Robert
Poulter bekannt ist.
Es geht sowohl um den Fluch als auch tatsächlich um die Geldbörse einer
ägyptischen Königin, deren Grab von zwei Archäologen entdeckt wird.
Die beiden streiten sich um den Ruhm der Entdeckung und der um seine
Anerkennung Gebrachte entdeckt die Geldbörse eben jener Königin, die
ohne Portemonnaie nicht weiter im Jenseits verweilen kann und die darum
auch den Geldbeutel mit einem entsprechenden Fluch belegt hat.
Diesen Fluch verwendet der Archäologe gegen seinen Kontrahenten, denn
aus dem Totenreich zurück und begleitet von drei Totengöttern sinnt die
Königin auf Rache und Wiedererlangung der Geldbörse. Letztere wiederum
wandert durch viele Hände und es entspannt sich auf Robert’ offener
Bühne eine Hetzjagd um die halbe Welt, bei der jeder Inhaber der
Geldbörse gewaltsam zu Tode kommt.
Die Jagd ist live zu erleben, denn die mehr als ein Dutzend Szenen
rauschen in den gut 30 Minuten der Aufführung am Auge des Zuschauers
nur so vorbei. Die Vorankündigung versprach einen „raschen“
Kulissenwechsel – „rasant“ trifft es eher, zumal der Umbau ohne Pause
während des Stücks erfolgt.
Was an sich Stoff für den klassischen Horrorfilm wäre, wird bei Robert
zu einer Komödie der besonderen Art. Es mischt sich typisch britischer
Humor und Poulter’sche Wortgewalt zu einem Gesamtkunstwerk besonderer
Güte, das mit Robert’s unvergleichlichen Pinselstrich in Figuren und
Kulissen auch optisch zum Genuss wird.
Robert Poulter beherrscht sein Theater, bei dem auch nicht mit
technischen Tricks von sich öffnenden Türen bis hin zu einem
Flugzeug-Crash gespart wird, virtuos wie ein Musiker sein Instrument.
Als am Ende dann nach Irrungen und Wirrungen die Königin wieder ins
Totenreich zurückgekehrt, ist die Welt wieder in Ordnung und um eine
beeindruckende Papiertheater-Vorstellung reicher.
Zum ersten Mal beim Preetzer Treffen von Iris Förster
Diesmal mache ich es: Ich fahre 800 km weit in den Norden
um mit dabei
zu sein. Acht Aufführungen an zwei Tagen, viele Kontakte, nette
Gespräche und zahlreiche Impulse und Anregungen für eigene
Papiertheatervorführungen. Es hat sich gelohnt. Preetz, ich komme
wieder!
„Die Nachtigall“
Joli's Papiertheater, Lise und Jochen
Dybdahl-Müller, Vilsiburg
Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, welcher
Nachtigall genannt wird!
Wer kennt es nicht, das Märchen von Hans-Christian Andersen „Des
Kaisers Nachtigall“: Der chinesische Kaiser hört den Gesang der
Nachtigall, die schon lange in seinem Garten lebt, und der Gesang rührt
ihn zu Tränen. Er holt die Nachtigall in seinen Palast und lässt sie in
einem goldenen Käfig leben und morgens und abends in Begleitung des
gesamten Hofstaats ausfliegen. Als der chinesische Kaiser vom
japanischen Kaiser ein Paket bekommt, in dem er eine künstliche
Nachtigall vorfindet, verliert er urplötzlich das Interesse an der
echten Nachtigall und verweist sie des Landes. Erst in seinen
schlimmsten Stunden, krank und dem Tod nahe, erinnert er sich wieder an
den Vogel, der mit seinem wunderschönen Gesang den Tod vertreibt und
dem Kaiser wieder zu wahrer Lebensfreude verhilft.
Lise und Jochen Dybdahl-Müller aus Vilsiburg in Niederbayern haben sich
einen traditionellen Stoff vorgenommen und mit selbst entworfenen
Figuren und Bühnenbildern umgesetzt. Seitlich des Theaters stehen
rechts und links Paravents, die mit weißem Papier bespannt sind, so
dass man die Bewegungen der Theaterspieler schemenhaft verfolgen kann.
Die Texte werden zum Spiel gesprochen, leider ist bei der Premiere die
Aufregung noch so groß, dass es zu einigen Versprechern kommt. Die
Geschichte erschließt sich dem Zuschauer durchaus, wenn auch der
Knackpunkt – das Verstoßen der Nachtigall durch den Kaiser - nicht
deutlich genug herausgearbeitet wird. Umbaupausen wie auch das ganze
Stück werden mit chinesischer Musik untermalt. Die Bühnenbilder wurden
aus chinesischen Kunstbüchern mit Ansichten des Kaiserpalasts kopiert,
die durchaus eine optische Wirkung erzielen. Allerdings fehlt es dem
ganzen Stück (noch) an Fluss und Ausdruckskraft. Nun ist die erste
Aufführung am Freitagabend sicherlich nicht der dankbarste Termin, den
man sich beim Festival vorstellen kann. Die Spannung ist auf dem
Höhepunkt, die Nerven liegen blank, das Publikum kommt ausgeruht und
mit hohen Erwartungen. Erwartungen, die bei dieser Aufführung leider
nicht immer erfüllt wurden.
Desierto Florido – Kunsthochschule
Muthesius, Kiel
Was blüht denn da?
Für alte Hasen ist es ja immer wieder interessant, wie der Nachwuchs
das Papiertheater interpretiert. Die Studenten der Muthesius
Kunsthochschule in Kiel, Fachbereich Raumstrategien, haben sich unter
Professor Dr. Ludwig Fromm in einem Semesterprojekt viel einfallen
lassen: Sind da doch vier mehr oder weniger quirlige Wüstenbewohner,
die sich mit witzigen Dialogen vom langweiligen Alltag abzulenken
suchen und doch nur auf eines warten – auf Regen. Eines Tages sind sie
des Wartens überdrüssig und werden selber aktiv: Sie graben Löcher und
schauen den Wolken nach, sie machen sich auf die Suche nach dem Regen.
Zunächst erfolglos und von gruppendynamischen Prozessen begleitet,
letztlich regnet es jedoch stark und immer stärker und die Frage, die
der Zuschauer sich am Ende des Stückes stellen muss, ist ob es die vier
Kameraden waren, die den Regen hervorgerufen haben oder ob der Regen
als Naturereignis zu werten ist. Das ist natürlich im Grunde einerlei,
denn das Wesentliche ist die wunderbare Veränderung, die Wüste ist
nicht mehr öd und grau, sie blüht in allen Farben.
Mit hohem technischen Aufwand, gesteuert von zwei Computern zeigen uns
die Studenten, was heute möglich ist: Regentropfen, -fäden, -wände aus
Glasfasersträngen mit einer eindrucksvollen Klangkulisse unterlegt.
Lange Wüstenwanderungen an endlosen Kulissenbändern entlang, die durch
die halbe Halle gezogen werden, prachtvolle Blütenkränze, die die
Farbenpracht der Pflanzenwelt zum Ausdruck bringen. Es ist
eindrucksvoll, diesem Schauspiel beiwohnen zu dürfen.
Und dennoch: Das Stück hat mich nicht wirklich begeistert. Die
Charaktere haben mich nicht in den Bann gezogen, der Inhalt der
Geschichte blieb auf der Strecke. Trotz (oder vielleicht gerade wegen)
des großen technischen Aufwands blieb die Geschichte leblos. Leblos wie
die Wüste vor dem Regen.