1600 verkaufte Karten = 99-120 % Platzauslastung
vermeldete Marlis Sennewald bei der Eröffnung und wagte einen Vergleich
mit dem Schleswig- Holstein-Festival, das nur 88 % zu bieten hatte
(allerdings auch ein paar Zuschauer mehr) und mit den Kahlschlägen im
sonstigen Kulturleben Schleswig-Holsteins. Denn in unseren "vergessenen
Oasen" (so das Thema einer Examensarbeit übers Papiertheater), auf
Preetzer Gassen und Plätzen herrschte ein Trubel, der sogar einige
Preetzer auf das Ereignis in ihren Stadtmauern aufmerksam machte.
Dass wieder alles perfekt klappte, ist vor allem Marlis Sennewald, Dirk
Reimers und ihren vielen Helferinnen und Helfern zu danken, die auch
noch jedes Mal das zusätzliche Opfer bringen, nur eine kleine Auswahl
Stücke sehen zu können. Leider hat auch kein noch so fleißiger
Zuschauer die Chance, alle zu besuchen. Deshalb freuen sich die
Berichterstatter für Verpasstes etwas nachliefern zu können, und zwar
Willers Amtrup und Uwe Warrach für jeweils zehn Aufführungen, Norbert
Neumann für eine weitere, so dass alle 16 Vorstellungen zu Wort kommen,
einige sogar unter verschiedenen Blickwinkeln.
Dazu haben wir einige Akteur/innen beim Vor-und Nachbereiten beobachtet.
Geistererscheinungen in Preetz
von Willers Amtrup
Sechzehn teilnehmende Bühnen,
siebzig verschiedene Vorstellungen, fünf externe Spielstätten - man
bräuchte logistische Unterstützung, um dieser Angebotsfülle auch nur
einigermaßen gerecht zu werden und zwischendurch wenigstens etwas Zeit
zu finden für Gespräche mit alten Freunden und neuen Bekannten; denn
darauf hat man sich ja mindestens ebenso sehr gefreut wie auf die
Vorstellungen. Und auch sonst wäre ein bißchen Beistand nicht schlecht,
weil in Preetz in diesem Jahr Ritter, Tod und Teufel sowie allerhand
weitere Geister ihr Wesen resp. Unwesen trieben.
Ich hangele mich bei meinem Bericht wie üblich an
meiner zeitlichen Abfolge entlang und beginne mit "Sarah's
Papertheatre", einem echten Familientheater der Tochter Sarah und der
Eltern Sylvia und Peter Peasgood. Sie spielten "Krazy Kat" eine auf
Comics von George Harriman aus dem Jahre 1936 basierende
Episodengeschichte um eine Katze, die sich in einen Mäuserich verliebt,
der wiederum mit Ziegelsteinen nach ihr wirft, deshalb von den
Polizisten Offissa Pup, einem Hund, ins Gefängnis geworfen und daraus
wieder befreit wird; zu diesem guten Ende vereinen sich alle im Gesang,
begleitet von Krazy Kat (alias Peter Peasgood) auf dem Banjo.
Letzterer präsentierte nach der Vorstellung die Vorlagen für
Dekorationen und Figurinen - vergleichsweise winzige Zeichnungen, die
von Sarah Peasgood überaus gelungen nicht bloß vergrößert, sondern
zugleich stilisiert und zu einem stimmigen Ganzen komponiert worden
waren. Schon die gut ausgeleuchteten, häufig dreidimensionalen
Dekorationen, die im Hintergrund jeweils von Peter Peasgood auf einer
vierfach geteilten Drehbühne aufgebaut wurden, hatten einen mehrfach
surrealen Charme - ich denke z.B. an die Mausefalle, die im Stück als
echtes Gefängnis auftaucht. Alle Figuren wirkten ausgesprochen skurril,
waren mit beweglichen Köpfen und Gliedern versehen und konnten so
äußerst lebendig agieren. Die Handlung hatte Witz, eine niemals
übersteigerte Dramatik und wurde von Sarah und Sylvia Peasgood live -
allerdings manchmal ein wenig überzogen - gestaltet. Alles in allem ein
sehr gelungener Auftakt für mich.
Die nächste Vorstellung, "Robin Hood -
New Adventures", dargeboten vom "Camara Theatrum" mit Frits und Gerda
de Nooijer ist optisch noch stärker eine vollkommene Eigenproduktion,
denn Frits de Nooijer, ein niederländischer Maler und Zeichner, hat
sämtliche Dekorationen und Figurinen gekonnt selbst entworfen und sich
dabei penibel an historische Abbildungen gehalten. Das ergibt
stimmungsvolle Tableaus, macht es bei der Fülle der auftretenden
Personen manchmal aber etwas schwierig, die jeweils agierenden
auseinanderzuhalten.
Auch die Handlung ist selbst erfunden: Robin Hood und seine Freunde
werden im Wald von Räubern überfallen, können sich befreien, werden
bald darauf auf einer Burg von feindlichen Truppen belagert, kämpfen
später unter der Erde erfolgreich um einen dort verborgenen Schatz und
überbringen diesen einem Erzbischof, der damit den gefangenen König
Richard Löwenherz freikaufen soll. Dieses dramatische Geschehen wird
mit vielen beweglichen Figuren lebhaft dargestellt; auch Klappfiguren
nach englischem Vorbild werden mehrfach verwandt. Beweglich sind
natürlich auch die auftauchenden Fuhrwerke, weiter Wurfmaschinen für
die Belagerung und anderes mehr. Leider aber ist der Bühnenausschnitt
ziemlich eng, und es sind wichtige Dekorationen - z.B. das brennende
Schloß - teilweise so tief im Bühnenhintergrund aufgestellt, daß sie
nur von wenigen Zuschauern wirklich gesehen werden konnten; der
Bühnenausschnitt könnte mit Gewinn vergrößert werden.
Und auch das streckenweise etwas einfache Libretto bedürfte der
Verbesserung. Insgesamt aber eine zweifellos lohnende Vorstellung.
Man könnte meinen, daß gegenüber solch
professioneller Kunst schlichtere Präsentationen hoffnungslos abfallen
müßten. Das Gegenteil bewies bald darauf Winnie Deichmann Ebert von
"Amager-Scenen" mit ihrer "Geschichte einer Mutter" von Hans Christian
Andersen. Wie die Spielerin eingangs ausdrücklich hervorhob, handelt es
sich entgegen der Ankündigung nicht um ein Märchen, sondern um ein
Stück aus den "Geschichten" Andersens. Ihr Inhalt ist bald erzählt:
Während eine Mutter bei der Wache neben ihrem schwerkranken Kind kurz
einschläft, wird dieses vom Tod geholt. Die Mutter macht sich
verzweifelt auf die Suche nach dem verschwundenen Kind und fragt
nacheinander die Nacht, einen Dornenbusch, einen See, eine Gärtnerin
nach dem Weg, muß für die Auskunft jeweils teuer u.a. mit ihren Augen
und ihrem Blut bezahlen und findet schließlich den Tod in Gestalt eines
Hüters über ein riesiges Gewächshaus, in welchem alle Bäume und Blumen
menschliches Leben repräsentieren. Als sie ihm droht, zwei dieser
Blumen, darunter die ihres Kindes, einfach auszureißen, zeigt ihr der
Tod das zukünftige Schicksal dieser zwei Menschen im Falle des
Weiterlebens. Die Mutter erkennt, daß ihrem Kind nichts als Elend
bevorstehen könnte, und überläßt Gott die Entscheidung über die
Zukunft. Diese Geschichte wird von der Spielerin live sehr
eindrucksvoll und einfühlsam erzählt, während sie ohne Pause die meist
dänischen Dekorationen wechselt und die Figuren - mehrfach Dreh- bzw.
Klappfiguren - agieren läßt. Besonders schön gelungen ist die
nach einem Foto gestaltete Schlußdekoration des Pflanzengartens. Ich
habe keinen Zuschauer getroffen, der diese schlichte Vorstellung nicht
ebenso wie ich als besonders anrührend empfunden hätte.
Die nächste Vorstellung brachte für mich einen der
Höhepunkte des diesjährigen Treffens, das "Wiener Papiertheater" mit
Kamilla und Gert Strauss sowie Manfred Heller. Sie spielten "Der Bauer
als Millionär - oder das Mädchen aus der Feenwelt", ein "romantisches
Original-Zaubermärchen" mit Musik von Ferdinand Raimund aus dem Jahre
1826, zu dem Trentsensky im selben Jahr ein Großes Theater und
Figurinen von Schwind herausbrachte. Die Handlung ist einigermaßen
kompliziert und kann deshalb hier nur angedeutet werden: Lottchen, die
Tochter der Fee Lakrimosa, muß auf Geheiß der mächtigen Feenkönigin
einen armen Menschen-Mann heiraten und wird deshalb dem armen
Waldbauern Fortunatus Wurzel übergeben, der sie verheiraten soll. In
Betracht kommt der arme Fischer Karl, doch wird die Verbindung aus
verschiedenen Gründen von den Geistern Neid und Hass - beide im
Personenverzeichnis des Stückes als "Milchbrüder" gekennzeichnet -
hintertrieben, die zunächst Wurzel, dann Karl steinreich werden lassen,
so daß aus Lottchens Heirat mit einem armen Mann nichts mehr zu werden
scheint. Erst als der Magier Ajaxerle aus Donau-Eschingen und der Geist
Zufriedenheit ihr mit allerlei Zauberei zu Hilfe kommen, erkennen die
beiden Krösusse, daß Geld allein nicht glücklich macht, verzichten
darauf und machen so den Weg frei für die Heirat. Natürlich werden
anschließend sowohl Wurzel wie Karl für ihre Einsicht belohnt, wenn
auch in geringerem Umfang als zuvor. Dieses Zaubermärchen ist wirklich
zauberhaft auf die kleine Bühne gebracht worden. Die Spieler verwenden
traditionelle Vorlagen - oft von Trentsensky - für ihre Dekorationen
und Figurinen - aber was sie daraus machen, ist überaus modern. Da
wabern Nebelschwaden über die Bühne, glitzern Lichter an winzigen,
beweglichen Leuchtern, erscheinen Geister bei Blitz und Donner als
Projektionen, fällt virtueller Schnee, verwandeln sich Fenster in
Fernseher. Die Ausleuchtung, u.a. mehrfach durch Spots, ist
stimmig und absolut synchron zur Handlung. Akustisch wird die
Aufführung bestimmt durch eine alte Hörspielaufnahme des ORF von 1955
mit viel Musik - ich verstand den Text zwar gelegentlich so wenig wie
bei anderer Gelegenheit das "Franzenglish" (ich will ja keine Namen
nennen), aber die wienerische Atmosphäre war damit perfekt eingefangen.
Begeisterter Applaus.
Und noch einmal das Thema "Geld macht
nicht glücklich": "Baldi's Papiertheater" aus der Schweiz, bestehend
aus Adolf Baldinger und drei weiteren Mitstreitern, brachte "Die
Geschichte vom Soldaten" auf die Bühne, ein Stück von Igor Strawinsky
und dem Schweizer Autor Charles Ramuz: Ein Soldat, auf Heimaturlaub auf
dem Wege nach Hause, tauscht seine Geige - seine Seele - gegen ein
Zauberbuch ein, das ihm unermeßlichen Reichtum beschert. Erst später
bemerkt er, daß er ein Geschäft mit dem Teufel getätigt hat, der ihm
außerdem nur noch einen einzigen Besuch in seiner Heimat gestattet. Der
Soldat wird tatsächlich reich und reicher, wird aber ständig
unglücklicher, zerreißt das Buch und eine als Ersatz gekaufte falsche
Geige, gewinnt dann durch eine List seine alte Geige zurück, heilt (und
heiratet) mit ihrem Ton eine Prinzessin und verfällt schließlich doch
dem Teufel, weil er vor lauter Heimweh sein Dorf zu besuchen versucht
und dadurch das unverändert gültige Verbot verletzt. Diese "Geschichte"
ist als Stück für das Papiertheater etwas heikel, denn sie wurde von
den beiden Autoren in schlechter Zeit - nämlich 1918 - speziell für ein
kleines Ensemble einer Wanderbühne geschaffen und sollte deshalb mit
einem minimalen Aufwand von Schauspielern auskommen. In der Konsequenz
sollte der meist gereimte Text teils von einem Vorleser zur Musik
rhythmisch deklamiert, teils von ihm und den Schauspielern zum
Geschehen auf der Bühne gesprochen werden. Zitat Ramuz: "Die Erzählung
und damit der Vorleser stehen im Vordergrund. (Er) muß ... die Handlung
vermitteln ... und das ganze Szenenbild sichtbar machen, schon bevor
Personen und Szenenbild da sind..."
Die Folge ist ein etwas zwiespältiger Eindruck dieser Aufführung:
Während teilweise längere Passagen der Handlung bei geschlossener Bühne
nur vom Erzähler vorgetragen werden, ist das, was sich dann auf
geöffneter Bühne tut, absolut überzeugend. Die von Baldinger
entworfenen Dekorationen sind mehrfach eindrucksvoll - besonders
gelungen der Rollhorizont im 2. Bild und der Teufelsrachen am Schluß -
, fast alle Figurinen sind beweglich gestaltet, etliche Szenen hätte
man länger oder wiederholt sehen mögen - ich denke an das fliegende
Pferdefuhrwerk des Teufels, Soldat und Teufel beim Kartenspielen und
den tanzenden Teufel im Zimmer der Prinzessin. Eine schöne Aufführung,
die aber noch schöner werden könnte, wenn man noch mehr von der
Erzählung wirklich als Spielhandlung zeigen würde.
Auf die dezenten Anzüglichkeiten von
Valerie und Michael Nelson mit ihrem "Little Blue Moon Theatre" freut
man sich nun schon einige Jahre jedesmal aufs Neue. Diesmal
präsentierten sie "Roman Reveries", Episoden einer Italienreise eines
jungen Paares, die sich zu einer Mixtur aus Realität und Wunsch- bzw.
Albträumen entwickelt. Köstlich schon der Beginn, wenn man das Paar am
Tisch eines Straßencafés in Venedig - wo sonst ?- in vier rasch
wechselnden Bildern so lange streiten sieht, bis die junge Dame
wutentbrannt wegläuft. Ihr geschieht dann in der Folgezeit auch das
meiste: Unvorsichtigerweise hängt sie ihre Kleidung vor einem Bade an
einen Haken, der sich als Teil eines Hirschgeweihs entpuppt und
natürlich bald auf Nimmerwiedersehen entschwindet. Aber auch der
Jüngling bleibt nicht lange bekleidet, und beide erleben dann getrennt
alle möglichen erotischen Abenteuer, bis sie die Stadt am Ende
gemeinsam wieder verlassen. Die junge Lady wird von römischen
Legionären gejagt, weibliche Zentauren "kümmern" sich um den Jungen,
der bald darauf von vier nackten Damen davongetragen wird. Neptun
erscheint, ein römischer Adliger vernascht die Lady hinter den Kulissen
so energisch, daß die ganze Bühne wackelt, Leda mit dem Schwan wird
zitiert, alle Beteiligten präsentieren erotische Akrobatik der
Spitzenklasse. Das alles ist wie gewohnt in Dekoration und Figurinen
höchst witzig selbst entworfen. Dabei wird außer der begleitenden Musik
praktisch kein Wort gesprochen - gegen Ende aber singt Valerie Nelson
zwei Arien von Puccini, sehr, sehr schön. Insgesamt wieder eine sehr
gelungene Vorstellung - allerdings trauere ich den früher erzählten
geschlosseneren Geschichten im Vergleich zu den italienischen Episoden
etwas nach.
Die nächste Vorstellung war für
Puristen sicher ein wenig gewöhnungsbedürftig - ich selbst empfand sie
als einen weiteren Höhepunkt dieses Treffens. Die Rede ist von den
"Farben des Südens" mit "Haases Papiertheater". Schon die "Bühne" ist
ungewöhnlich: eine Staffelei mit einem zunächst schwarz verhängten
goldenen Bilderrahmen, in welchem während des Spiels acht verschiedene
Bilder Vincent van Goghs erscheinen, durch die der Lebensweg des Malers
vom Beginn seiner Berufung als Maler bis zu seinem Tod dargestellt
wird. Alle diese Bilder - darunter die berühmte Zugbrücke und das gelbe
Haus bei bzw. in Arles, die Fischerboote am Strand und die nächtlichen
Sternenwirbel über den silhouettenhaften Zypressen - sind zunächst nur
zweidimensional sichtbar, verwandeln sich aber in dreidimensionale
Landschaften, in denen ein Pferdefuhrwerk über die Zugbrücke fährt,
Wäscherinnen tatsächlich waschen und Wäsche auswringen, Bahnen und
Schiffe sich bewegen und im Schlußbild der (allerdings im Original
nicht hierhin gehörende) Maler selbst durch das Kornfeld wandert.
Möglich wird das dadurch, daß die einzelnen Gemälde mit Hilfe des
Computers in verschiedene Ebenen zerlegt worden sind, die anfangs eng
aufeinanderliegen, dann aber wie eine Ziehharmonika auseinandergezogen
werden und ihre räumliche Wirkung entfalten. Das wirkt bei der ersten
Verwandlung echt verblüffend, ist aber auch bei allen folgenden Bildern
so raffiniert gemacht, daß man immer wieder innerlich Beifall klatscht.
Im Verlauf der Vorstellung schildert Sieglinde Haase den Lebensweg von
Goghs und baut dann anschließend die "Bühne" um, während Martin Haase
aus Briefen des Malers an seinen Bruder Theo vorliest und stimmungsvoll
Gitarre spielt. Nicht zu vergessen eine gute Lichtregie und mit
einfachsten Mitteln erzeugte Geräusche - eine beeindruckende
Vorstellung!
Als nächstes bot Per Brink Abrahamsen von
"Svalegangens Dukketeater" sein Stück "Heloise" ("Die Heldin") nach
einer Geschichte von Karen (Tanja) Blixen dar. Das Geschehen beginnt in
Berlin im Jahre 1870 kurz vor dem Ausbruch des deutsch-französischen
Krieges und zeigt zunächst einen französischen Theologiestudenten, der
im Museum außer religiösen Bildern auch Darstellungen nackter Frauen,
darunter der Venus, entdeckt, dann wegen des Kriegsausbruchs
schleunigst nach Frankreich zurückwill, aber in Saarburg hängenbleibt
und dort zusammen mit einer großen Gruppe von Leidensgenossen von einem
deutschen Offizier unter Spionageverdacht arretiert werden soll. Dem
soll die Gruppe nur dann entgehen können, wenn eine gerade angekommene
französische Witwe namens Heloise sich bereiterklärt, im Kostüm der
Venus (hier ist der rote bzw. nackte Faden der Geschichte) alle Pässe
einzusammeln und dem Offizier zu überbringen. Heloise ist zwar bereit
dazu, überläßt die Entscheidung aber der Gruppe, die das Ansinnen
entrüstet ablehnt und den Offizier dadurch so beeindruckt, daß er alle
laufen läßt. Jahre später trifft der Student in Paris erneut auf
Heloise, die nun im Venuskostüm in einem Varieté-Theater auftritt. Per
Brink Abrahamsen hat dieses Stück mit Dekorationen und Figuren von
Frits Moeller zunächst in Aarhus mit einem dänischen Soundtrack
aufgeführt und legte nunmehr in Preetz über diesen im Hintergrund
weiter hörbaren Text die Erzählung einer Sprecherin in deutscher
Sprache. Die einzelnen Akteure wurden dadurch nicht besonders
hervorgehoben, und entsprechend sparsam gestaltete Abrahamsen die
Figurenführung. Wie immer perfekt die Gestaltung der Bühne und die
Lichtregie, u.a. mit einem überaus gelungenen Gewitter.
Ich bin kein Papiertheater-Purist und
scheue mich deshalb nicht, der nächsten Vorstellung, die ich sah, den
"Goldenen Schuh" - oder wie kann man in der Schusterstadt Preetz den
ersten Preis sonst nennen? - zuzuerkennen. Die Rede ist von "Panteón de
Fiesta" der aus absoluten Profis bestehenden mexikanischen Gruppe
"Facto Teatro". Ihr Stück ist rasch erzählt und doch so vielschichtig,
daß man sehr viel mehr dazu sagen müßte. Im Kern geht es um die aus der
Mythologie eines mexikanischen Volksstammes stammende Reise des
verstorbenen Procopio an den Ort der letzten Ruhe, eine Reise, auf der
er zahlreiche Gefahren - einstürzende Gebirge, schreckliche Eidechsen,
Krokodile, eisige Winde mit fliegenden Messern - bestehen und außerdem
überhaupt erst begreifen muß, daß er tot ist, damit er in der
Konsequenz den Sinn des Lebens begreift. Die Gruppe stellte sich
zunächst kurz vor, beweinte anschließend herzerweichend Procopios Tod,
erschien dann in in einer Prozession mit indianischem Federschmuck und
agierte anschließend in dem für diese Vorstellung besonders geeigneten
Speicher-Spielort in der Weise, daß zwei Schauspieler im Zentrum
der Aktion auftraten und zwei Musiker mit Gitarre und einer kleinen
Harfe spielend und singend das Geschehen sowohl begleiteten wie
vorantrieben. Die beiden Schauspieler waren jederzeit voll sichtbar,
brachten sich selber ständig in die Handlung ein, benutzten teilweise
eine Bühne mit einem mit Totenköpfen verzierten Proszenium, in dem sie
von oben mit ihren Figuren spielten, veränderten aber ständig die Art
der Darstellung und ließen bei aller Professionalität eine Spielfreude
erkennen, die begeisterte. Da gab es Geistererscheinungen, eine
geheimnisvoll ausgeleuchtete Höhle, fliegende Schwerter, ein als
Schattenspiel gestaltetes Krokodil, das intensiv redete, ein überaus
erheiterndes Trinkgelage und schließlich einen Nackthund, die nach dem
Einführungstext "sowohl als Haus- und Wachtier, aber auch als Nahrung
sehr beliebt" waren. Hier war manches gewiß kein Papiertheater im
hergebrachten Sinne, aber ich finde solchen Aufbruch zu neuen Ufern
unbedingt positiv, zumal wenn er in einem so perfekten Zusammenspiel
dargeboten wird wie von den vier Mitgliedern der Gruppe. Rauschender
Beifall.
Mein letzter Besuch galt einem weiteren Höhepunkt
dieses Treffens, "Robert Poulter's New Model Theatre" mit "Valsha, die
Sklavenkönigin". Poulter hatte sich dabei ein Melodram des 19. Jh.
ausgesucht, eine verworrene Geschichte - very british -, die ihm
Gelegenheit zu lebhafter Aktion und ständigem Wechsel von Schauplätzen
und Positionen der Akteure bot. Das ganze spielt im "alten" Prag, wo
alle Frauen der besiegten Völker versklavt sind, aber ihren Herren
heiraten können. Der verwitwete König Przemislaus hat seiner Sklavin
Valsha die Ehe versprochen, macht aber einen Rückzieher, dankt ab und
übergibt die Krone seinem Sohn Ludgar. Valsha zettelt daraufhin einen
Aufstand der Sklaven an, bedient sich dabei der Hilfe des
geheimnisvollen, finsteren Graff, besiegt Ludgar, wird Königin, dann
wieder abgesetzt und schließlich von Graff als Vollstrecker eines
Todesurteils dadurch getötet, daß er sie vom Burgturm in die Tiefe
wirft - nach dem Einführungstext Poulters "die (damals) beliebteste
Form der Hinrichtung". Wie sich anschließend herausstellt, war er der
von König Przemislaus gezeugte uneheliche Sohn Valshas.
Diese schauerliche Geschichte erlebte ihre Uraufführung 1837 im Adelphi
Theatre in London, wobei der Schauspieler O. Smith den Graff darstellte
- ich erinnere daran, daß Poulter und Peter Baldwin vor 3 Jahren ein
hinreißendes Portrait dieses als "König des Schreckens" populären
britischen Schauspielers präsentiert hatten. Daß Robert Poulter aber
gerade auch als Alleinunterhalter absolute Spitze ist, brauche ich
nicht weiter zu betonen - ich kann mich jahrein, jahraus immer nur
wiederholen. Auch diesmal gab es seine rasanten Szenenwechsel, seinen
abwechslungsreichen Drehhorizont, gab es mehrfach veränderte
Bühnenausschnitte, Aktionen auf 2 Ebenen, turbulente Massenszenen und
wiederholt ein Geschehen, bei dem innerhalb kürzester Zeit Figuren in
vier bis fünf verschieden Posen auftraten - das macht ihm niemand nach!
Beeindruckend am Schluß die Turmkulisse. Das Publikum war begeistert -
und ich auch!
Wie schon früher einmal schließe ich mit dem abgewandelten Gruß:
"Nächstes Jahr in Preetz"!
Lebendige Oase
von Uwe Warrach
Ein "Licht im Winter":
Tripp Trapp Troll / Teater Buffa,
Marianne Castegren und Schwestern, Schweden
Da sitzen an einem Winternachmittag drei Schwedinnen in ihrem Haus beim
Kaffee, es ist längst dunkel draußen, und sie singen und spielen für
ihre oder für Nachbarskinder mit Figuren und Bildern ein Märchen - das
war meine Assoziation bei Tripp Trapp Troll. Zur Überbrückung der
Wartezeit vor Beginn wird üblicherweise das Publikum zu Kanons
eingeteilt. Endlich öffnet sich die Bühne, und zwar weiter als andere
und für relativ große Figurinen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen
wieder einmal Kinder. Ein anrührendes Abenteuer aus alter Zeit: Drei
kleine Mädchen warten auf die Rückkehr ihres Vaters, eines Ritters, der
ausgezogen ist, den bösen Riesen zur Strecke zu bringen, der alle
Menschen, die ihn ansehen, in Stein verwandelt. Auch die Mädchen
verkürzen sich die Wartezeit; sie stricken Strümpfe, und weil es so
lange dauert, hängen die Strümpfe schon über den Bühnenrand, als die
Kinder sich aufmachen, ihr Versprechen zu erfüllen und ihren Vater zu
retten. Auf der gefährlichen Reise begleitet sie der Gesang der drei
Spielerinnen. Das ist schön und schlicht gestaltet, mit einem Schuss
Ironie, besonders bei den martialischen männlichen Auftritten. Heiter
und ohne jeden Perfektionsanspruch- eben wie an einem Winternachmittag
in behaglichem Zuhause. Sehr großer Beifall.
Theater in der Unterwelt:
Panteón de Fiesta / Facto Teatro, Mercedes Gómez u.a., Mexiko
Mit meinem deutschen Gemüt kam ich mir etwas schwerfällig vor bei
diesem Fest für Augen und Ohren, ungefähr wie ein Fremder, der
unversehens auf einem Markt oder Bazar im Süden aufwacht. Eine Dame,
zeitweise an der Harfe, drei Herren, zeitweise an Gitarre und Geige,
mit viel Gesang, Klängen und Rhythmen, die mich an die Inka-
Gesangsgruppen in den Fußgängerzonen erinnerten. Mittendrin
unterbrechen und beraten die Akteure einander, streiten und feilschen
wohl auch, was ich aber nicht verstehen konnte, weil sie Spanisch
sprechen. Schade um etliche Pointen. Es ist aber eigentlich ein
Musical, heiter, temperamentvoll, südamerikanisch. Jedoch: Auf dem
Proszenium steht ein Kreuz, als wolle es respektloses Umspringen mit
der Religion in seine Schranken weisen. Dabei ist diese sogar eine
Stufe tiefer angesiedelt, nämlich in der Mythologie, die vor den
Spaniern da war und die dem Plot zugrunde liegt. Eine fürchterliche
Geschichte im Grunde, die da abrollt: eine Art mexikanisches Fegefeuer,
der Gang eines Toten durch die mystische Unterwelt des alten Mexiko.
Die berüchtigte Schädelpyramide der Menschenopfer aus
vorkolonialistischer Zeit fehlt ebenso wenig wie das Fürstentum der
Finsternis. Die 40 Minuten vergehen im Nu, langer, starker Applaus.
Kein Wunder, dass es sehr mühevoll war, diese Gruppe für Preetz zu
buchen.
Schwüles Fantasien:
Roman Reveries / Little Blue Moon
Theatre, Valerie und Michael Nelson, USA
Dieses Unternehmen aus Kalifornien hat immer Erotik im Gepäck. So war
das Gewackel der Bühne keine Panne, sondern achtersinnige Berechnung.
Ein leicht missgestimmtes Touri- Pärchen der Überflussgesellschaft
kommt nach Rom und verliert sich in Phantasien altrömischer Dekadenz
(die unsereinem ja neuerdings auch nachgesagt wird). SIE badet nackt im
See einer Art Tivoli-Landschaft, und wir lachen noch darüber, dass ihr
Kleiderständer, ein Hirschgeweih, mit seinem Träger und ihrer Wäsche
davon marschiert. Da wechselt die Szenerie zu den Blutorgien im
Kolosseum, denen wir durch ein Guckloch zusehen. Ab und an wird der
Leichnam eines Gladiators vorbei getragen, manchmal auch ein toter
Löwe. Erleichtert finden sich Protagonisten und Publikum in der
Gegenwart wieder. Alles ohne Worte und mit schöner Musik, darin Puccini
live gesungen von Valerie Nelson- ein extra Bravo!
Er ist der Kleinste, jedoch:
Ich bin der Stärkste im ganzen Land /
Hellriegels Junior - Willem Klemmer, Gerlinde Holland, Kiel
Auf seinem T-Shirt steht es wie ein vorsorglicher Protest gegen
entzückte Senior/innnen: "Ich bin nicht süß." Denn er ist deutlich
jünger als sein Publikum, der jüngste Spieler der Saison, der 8jährige
Willem Klemmer, der, begleitet von seiner Großmutter Gerlinde Holland,
sein Debüt gab.
Der Enkel des unvergessenen Papiertheaterspielers (und
Rundfunksprechers) Heinz Holland (+ 2001) wurde geboren, als sein
Großvater starb und eifert ihm nach. Er bedient geübt, ruhig und
besonnen die kleine, selbstgebaute Bühne und spricht die Rollen der
verschiedenen Tiere, vor denen sich der Wolf mit seiner Stärke brüstet,
klar und mit passenden Stimmen und Betonungen. Souverän, aber
bescheiden, freut er sich über den starken, ungeschmeichelten Beifall.
Ich verspreche, ihn nicht wieder "süß" zu nennen.
Zaubermärchen, computergesteuert:
Der Bauer als Millionär / Wiener
Papiertheater, Kamilla und Gert Strauss
Beim Wiener Papiertheater ist wie immer alles super-perfekt: klassische
Kulissen, Effekte der großen Oper mit Nebel und Feuer, der reine Klang
der Musik, die exakten Bewegungen der Figurinen, die Dramaturgie. Sogar
der ungeplante, um die Mittagszeit durch ein Loch in der
Dachfensterverkleidung einbrechende Sonnenstrahl, von der erschrockenen
Direktion als Panne bedauert, gibt zusätzlichen Glanz von oben. Sehr
starker Beifall; auch später, zwischen anderen Aufführungen, hörte ich
viel Lob für das computergesteuerte romantische Zaubermärchen von
Ferdinand Raimund. Bei soviel Lob wird man auch etwas granteln dürfen:
Für 70 Minuten ohne Pause braucht es einen Spannungsbogen, den das
Papiertheater kaum tragen kann; auch deshalb wohl halten sich fast alle
Bühnen an die 45-Minuten-Vorgabe.
Auch ein "Prager Pitaval":
Valsha, the Slave Queen / Robert
Poulter's New Model Theatre, Großbritannien
Robert Poulter ist für mich der unbestrittene und unerreichte Virtuose,
der "Titan des toy theatre", wie sie ihn auf den Britischen Inseln
nennen. Seine Kulissen und Figurinen wie immer selbst gemacht, passen
zu- und aufeinander - ach was, sie rasen oder schleichen wie lebendige
Gestalten durch ihre scharf gezeichneten Welten. Fast geht dabei unter,
dass Poulter ein ausgezeichnetes Gespür für passende Musikpassagen hat,
die er sonst wo her holt. Zu der Geschichte wird gleich erklärt, was
man wissen müsse: dass im alten Prag die beliebteste Form der
Hinrichtung das Werfen der Delinquenten von Türmen war, wohl eine
Vorstufe des Fenstersturzes. Alle geraubten Frauen seien Sklavinnen auf
Lebenszeit gewesen, es sei denn, jemand fand sich, sie zu ehelichen.
Die Königin ist tot, König Premislaus will wieder heiraten- eine
Sklavin. Nun geht es los mit Intrigen, Selbstmord und Totschlag, und
auf der Bühne tobt das (sofern verschonte) Leben, ebenso über der
Bühne, von wo Robert Poulter Kulissenteile und Figuren schiebt, wirft
und stapelt. Schweißüberströmt verbeugt er sich und lädt zum Blick
hinter die Bühne ein. Jedes mal glaube ich es nicht, dass von diesem
kleinen Kartonhaus mit simplen Lampen und Gerät so viel Illusion
ausgehen kann.
"Spoons, spoons, spoons!":
The Miller and his men / Paperplays
Puppet Theatre, Joe Gladwin, Großbritannien
An Virtuosität auf der Bühne steht Joe Gladwin seinem Landsmann Robert
Poulter nicht nach. Aber ihm ist sie noch zu eng, er tanzt, springt und
singt um sie herum und mit den Figurinen um die Wette, hat zumindest so
viel Spaß an seinem Spiel wie sein Publikum. Doch auch historische
Originalität ist ihm wichtig: Figurinen und Kulissen sind nach der
Aufführung im Haymarket Theatre von 1861 gestaltet. Das wohl
berühmteste britische Papiertheaterwerk handelt von Liebe, Räubern,
Entführung, offenem Kampf aufs Schwert (eine Zuschauerin erhält den
Auftrag, für die Geräuschkulisse mit zwei Esslöffeln zu klappern, nach
der Regieanweisung: "Spoons, spoons, spoons!") und am Ende explodiert
eine Windmühle, heikelster Moment der auf Feuer und Wasser allergisch
reagierenden Bühnen.
Auf der Strecke durch die beiden Jahrhunderte seiner Existenz hat
dieses Stück schon einige Zimmerbrände hinterlassen. Deshalb freut man
sich auch immer besonders auf das Finale. Joe Gladwin verzichtet auf
jegliche Kokelei, begnügt sich indessen nicht mit einer auf Pappe
gemalten Sprengung, sondern blendet uns unter passendem Lärm mit einer
Taschenlampe, bevor der Vorhang fällt.
Überhaupt kein Märchen:
Das Kaisers neue ... / Papiertheater
Pollidor, Dirk und Barbara Reimers, Preetz
... Kleider, denkt man, und das ist auch richtig, aber der Kaiser ist
diesmal ein gelangweilter, wahrscheinlich schwuler Modezar, der im
Wellnessbad weilt und alle Kleidermodelle, die man ihm vorführt,
gräääääßlich findet. Bis zwei Weber auftauchen, die eine Kreation
versprechen, die alles bisher da Gewesene in den Schatten stellt, oder
besser: ins Licht, denn sie sei nur sichtbar für absolut ehrliche, gute
Menschen. Also für niemand anderen als ihn selbst, denkt jeder nun und
glaubt einen Hauch von Stoff zu sehen, zart wie der Flügelschlag eines
Schmetterlings, in Wahrheit: nichts. Die Weber umgarnen den
Modeschöpfer mit der Phrasendrescherei modernen Hausierertums aus
Wirtschaft und Politik. Auch wenn man schon ahnt, wie es ausgeht und
wer am Ende bloß gestellt ist - Andersens Märchen führt uns geradewegs
in die Wirklichkeit von 2010. Barbara und Dirk Reimers verstehen es,
die verschiedenen Rollen - wie immer live - deutlich unterscheidbar zu
sprechen und sparen - auch wie immer - nicht an Ironie.
Zärtlich und schmerzend:
Die Geschichte einer Mutter /
Amager-Scenen, Winnie Deichmann Ebert, Dänemark
Dies hat mich nun so ergriffen, wie es dem Papiertheater selten
gelingt. Aber hier spürt man sofort die Liebe zum Metier und zu der
Geschichte: Eine Mutter verliert ihr Kind, sucht es überall, nicht
ahnend, dass der alte Mann, der es am Krankenbett besuchte und den sie
sogar bewirten wollte, der Tod war. Es endet, wie so oft bei Hans
Christian Andersen, durchaus nicht happy, eigentlich sogar fast ohne
Trost. Die Bilder des Bauernhauses, des Winterwaldes und des Gartens
der Menschenherzen erinnern an Fotos aus dem 19. Jahrhundert und haben
eine Tiefe, die man sich bei der anschließenden Besichtigung der engen
Bühne gar nicht erklären kann. Winnie Deichmann Eberts bescheidenes
Auftreten und ihr dänischer Akzent des live gesprochenen deutschen
Textes nehmen ein wenig von der bitteren Härte der Geschichte. Nur 20
Minuten, aber eine starke Wirkung, die mich in den Abend begleitete.
Beweglich und bewegend:
Reise zum Mittelpunkt der Perspektive
/ Muthesius Kunstschule Kiel, Prof. Dr. Ludwig Fromme mit Student/innen
Große Bühne, zahlreiche Mitwirkende, viel Technik, mehr Multimedia als
herkömmliches Papiertheater- aber was ist beim heutigen Papiertheater
schon herkömmlich? Ein Kind sucht seine Perspektive. In einer Welt, die
scheinbar weiß, was sie will, vor allem: was alle zu wollen haben.
Manipulation statt Wertevermittlung, e- Book statt Schmökern; es ist
schwer, sich zurechtzufinden, nicht nur für einen kleinen Jungen. Zu
den Computer gesteuerten Bildern und Tönen sprechen die Spieler
größtenteils live, zum Teil akustisch verfremdet. Ein Semesterprojekt
ohne Längen und akademischen Anstrich.
Leben und Sterben des armen Romeo
oder Trauerzug mit Starparade
von Norbert Neumann
Compagnie Papierthéâtre mit Romeo and
Juliet
Er war Schauspieler, Bühnenbildner, Kostüm- entwerfer,
Regisseur, Stückeschreiber, Holz- schneider und d e
r Theaterreformator des
beginnenden 20. Jh. Er arbeitete in seiner Heimat London, in
Deutschland, Russland, Frankreich und anderswo mit den
bedeutendsten Theater- leute zusammen.
Aber als Edward Gordon Craig 1966 im Alter von 94 Jahren starb,
schrieb DIE ZEIT in ihrem Nachruf: "Aber zur Vergangenheit wird,
(zur Recht oder zu Unrecht) zuweilen auch gezählt, - wer einmal
Geschichte gemacht hat: Der jungen Generation ist Craig kaum mehr
ein Begriff."
Doch nach Jahrzehnten bietet ihm das Papier- theater, das er
einst selbst sammelte, die pappenen Bretter für ein bescheidenes
Comeback.
Bescheiden...? Unter alten Papiertheater-Hasen war Alain Lecquc
immer für eine Überraschung gut. Diesmal präsentiert sich
seine französische Compagnie Papierthéâtre scheinbar
traditionell: Die Bühne, Kopie eines alten englischen Proszeniums,
flankiert von der historischen Häuserzeile der Londoner Drury Lane.
Hinter denen hervor holen Narguess Majd, Alains großartige iranische
Partnerin, und Alain
als vergrößerte Figuren Shakespeare, andere Stückeschreiber und weitere
Theaterleute und - Romeo und Juliet, die unverkennbar die
Züge des jungen schwarzbärtigen Alain und der charmanten Narguess
tragen. Alle gekleidet nach der Mode von 1917, als Craig diese
Shakespeare- Parodie schrieb.
Auf der Bühne dann ein schmachtender Romeo- Alain unter dem Fenster der
koketten doch den Geliebten immer wieder hinhaltenden Juliet-
Narguess. Als sich die Szene wendet und einen Blick in das Innere des
Hauses gewährt erkennt man: Das bezaubernde Gesichtchen Juliets
steckt auf einer - Schneiderpuppe.
Die für Romeo höchst unbefriedigende Romanze zieht sich in dieser Form
über Jahre hin. Nur verliert der Liebhaber dabei eines seiner
Gliedmaßen nach dem anderen (wohl Ausdruck der Traumata des 1.
Weltkrieges), bis er zum Schluss, nur Rumpf und Kopf, im
Rollstuhl
sitzt, während Juliet mit wohlgestalten Glied- maßen und elegant
gekleidet auf die Straße tritt.
So folgt sie auch dem Leichenzug des armen Romeo und mit ihr die
schwarzen Gestalten aus Craigs Holzschnitten. Den Abschluss
bildet
(und das bei Alain, dessen Produktionen die Papiertheater-Puristen
stets mit der bohrenden Frage begleitet haben: Ist das noch Papier-
theater?) die fröhlich bunte Starparade der heutigen
Papiertheater-Prominenz.
PS: Großartig, Alain und Narguess! Nur den Ruhm, als erste den EGC fürs
Papiertheater entdeckt zu haben, muss ich euch streitig machen.
Bereits anfangs des neuen Jahrtausends hat Robert Poulter den Edward
Gordon als altklugen kleinen Burschen in seiner
papiertheatralischen
Irving-Biographie "Tis I" auftreten lassen. Und in PapierTheater Nr.
27, Seite 23, haben wir das Gemälde abgedruckt, das Craig als
Hamlet darstellt.
"Romeo and Juliet" aber ist ein sprühender Beweis für die lebendige
Wechselwirkung zwischen Theatergeschichte und Papiertheater. D. O.