Zum Geleit
Liebe Leserinnen und Leser,
wie Sie vielleicht bemerkt haben, hat sich der Inhalt der Nummer
42 unserer Webausgabe seit ihrem erstmaligen Erscheinen Anfang November
mehrfach geändert. Eine neue Redakteurin und ein neuer Webmaster
mussten sich seit September in ihre Arbeitsbereiche einarbeiten und,
wie oft in solchen Fällen, ruckelte es auch hier.
Mit dem – ebenfalls neuen – Vereinsvorstand waren wir uns aber einig,
dass wir uns von der Praxis lösen wollten, Texte, die bereits online
verfügbar waren, mit monatelanger Verzögerung noch einmal gedruckt zu
veröffentlichen und so jede neue Zeitung bereits mit dem
Erscheinungsdatum zur Makulatur zu degradieren. Die Webzeitung soll
vielmehr fortan dazu dienen, das nächste Heft anzukündigen, Themen
anzureißen und neugierig zu machen.
Wie wir in der Praxis versucht haben, diese Idee umzusetzen, hat uns
viel Kritik eingetragen und uns dazu bewogen, diese Webausgabe noch
einmal gänzlich zu überarbeiten. Um die widerstreitenden Interessen zu
befrieden, lesen Sie in dieser Ausgabe nicht, wie bisher, eine Auswahl
an Texten sondern jeweils eine gekürzte Fassung. Dafür werden nun alle
auf dem Festival in Preetz gezeigten Stücke besprochen.
Im Januar 2016 wird ein Zukunftstreffen des erweiterten
Vereinsvorstandes darüber befinden, in welcher Form Website und
Zeitschrift weitergeführt werden, damit sie sich sinnvoll ergänzen.
Also betrachten Sie diese Webausgabe bitte als das, was sie ist: ein
Übergangsphänomen, das nicht mehr ganz der Tradition folgt und noch
nicht da angekommen ist, wo sie in Zukunft stehen will.
Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre!
Die Redaktion
Sabine
Herder
Robert Jährig
(Print)
(Web)
Das PapierTheater Nr.42 SEITE 3 Oktober 2015
Das PapierTheater Nr.42 SEITE 4 Oktober 2015
Norbert Neumann im „Bühnenhaus“
mit freundlicher Genehmigung des Verlages GEO-Magazin
Die Lichter waren erloschen. Der Vorhang des Vergessens schien für immer gefallen zu sein. Wer in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Papiertheater sprach, stieß weitestgehend auf Unverständnis. Nur bei wenigen alten Leuten kamen Erinnerungen auf. Und die noch viel wenigeren, die sich mit dem Massenmedium des 19. Jahrhunderts beschäftigten – es waren mehr Sammler als Spieler –, glichen der Nadel im Heuhaufen. Wie konnte es da in der Welt von Film und Fernsehen, der zunehmend digitalisierten, von Bildern überfluteten Welt zu einer Wiederbelebung des Papiertheaters kommen? Die Antwort darauf werden letztlich Soziologen, Medien- und Erziehungswissenschaftler geben müssen.
Ich kann nur aus dem subjektiven und vielleicht manchmal als ungerecht empfundenen Blickwinkel des Zeitzeugen berichten. Wer in diesen Zeilen nicht erwähnt wird, möge sich deshalb nicht gekränkt fühlen. Er ist nicht in der Versenkung verschwunden …
Der Begriff Papiertheater ist zunächst besetzt von den aus gedruckten Ausschneidebogen gebauten Figuren und Theatern, die es im 19. Jahrhundert zu einem Massenmedium gemacht haben. Die Entwicklung der Drucktechnik, die höhere Auflagen ermö;glichte, hatte diese Entwicklung wesentlich befördert.
DIE ÜBERRASCHUNG AUF DEM 26. PAPIERTHEATERFESTIVAL IN PREETZ: NORBERT NEUMANN ALS ARCHIVARIUS LINDHORST IN RÖMERS „DAS MAGISCHE THEATER“
Der Terminus ,Kindertheater‘ … schränkt ganz zu Unrecht den Kreis seiner Liebhaber auf Kinder und junge Leute ein – in Wirklichkeit spiegelt es die unersättliche Lust an Spektakel und Bühne, die nach den Napoleonischen Kriegen alle Schichten des Alters und der Gesellschaft erfaßt hatte.“ Diese Richtigstellung veröffentliche Günter Böhmer, Leiter der Puppentheater-Sammlung der Stadt München, bereits in seinem Buch PUPPENTHEATER (1969/1976 München). Und „… eine heimliche Lust des Vaters“ vermutete auch Werner Waldmann (in „Handpuppen, Stabfiguren, Marionetten“, München 1986) in seinem Kapitel zum Papiertheater.
Spiele, Aufführungen mit Figuren und Kulissen aus Papier hat es aber auch vor dieser Zeit gegeben. Belege dafür sind selten, vermutlich auch deshalb, weil die Theater, die in vielen Biografien eine Rolle spielten und offensichtlich aus Papier gefertigt waren, einfach Puppentheater genannt wurden. Zwei Beispiele für das Papiertheater vor dem gedruckten seien hier genannt:
Als Friedrich Schiller noch der kleine Fritz war, wurde er, wahrscheinlich im Herbst 1768, also etwa neunjährig, zum ersten Mal in die Ludwigsburger Oper mitgenommen, berichtet Peter Lahnstein in der Biographie „Schillers Leben“, München 1981. Und Schillers Schwester Christophine Reinwald schreibt in ihren Skizzen „Schillers Jugendjahre“: „Er war ganz Aug und Ohr, bemerkte alles genau und versuchte zu Hause, durch die Bücher, die er zu einem Theater bildete, von Papier Figuren ausschnitt und durch einen Faden geleitet sie ihre Rolle spielen ließ.“ (Zuerst erschienen in: Gosche [Hrsg.]: Archiv für Literaturgeschichte. I. Bd., Leipzig 1875.)
Ein anderes Beispiel haben wir in der National Gallery of Scotland in Edinburgh entdeckt. Horace Walpole (1717–1797), sozusagen der Erfinder der Gothic Novel, des Schauerromans, der Gespenstergeschichte, ließ sich Mitte des 18. Jahrhunderts in Twickenham (heute ein Stadtteil von London) eines der ersten Landhäuser im neugotischen Stil erbauen.
Dorthin lud er mit großem Vergnügen die Schwestern Mary und Agnes Berry ein, um sich von ihnen Papiertheater vorführen zu lassen. In einer Vitrine der National Gallery waren Reste dieser Aufführungen zu sehen: Figuren, zum größten Teil offensichtlich aus Modejournalen ausgeschnitten, und als Kulissen Aquarellzeichnungen mit Motiven der neugotischen Dekoration des Landhauses. Der Sammler dieser Raritäten blieb leider anonym.
Warum gehe ich so weit in die Geschichte des Papiertheaters zurück? Weil ich überzeugt bin, dass es Theaterspiele aus Papier gibt, seit Papier in mitteleuropäischen Haushalten ein gebräuchliches Material ist. Also wohl etwa seit dem 16./17. Jahrhundert. Und weil das Wiederaufleben des Papiertheaters zugleich ein (unbewusster?) Rückgriff auf die Formen des Papiertheaters vor seiner großen Zeit im 19. Jahrhundert ist.
„THE TITAN OF TOY THEATRE“: ROBERT POULTER, 2002 IN PREETZ MIT „THE LOYAL 47“
Meine erste Berührung mit dem Papiertheater, Mitte der 70. Jahre des vergangenen Jahrhunderts, waren Bogen aus dem Verlag Josef Scholz, Mainz. Meine erste Begegnung die Aufführung eines klassischen englischen Papiertheater- Melodrams in London, wo die Tradition des Papiertheaters, wie auch in Dänemark, nie ganz abgebrochen war. Beim 1. Preetzer Papiertheatertreffen 1988 wurden 12 Stücke aufgeführt, davon wurden 8 mit traditionellen Figuren und Dekorationen gespielt. Beim 25. Preetzer Papiertheatertreffen 2012 wurde von den 17 Bühnen nur noch eine einzige mit Ausschneidebogen- Figuren bespielt. Mit seiner neuen Blüte hat sich das Papiertheater kontinuierlich neuen Formen, die häufig den herkömmlichen kleinen Bühnen-Rahmen sprengen, und der Anwendung moderner Techniken geöffnet.
Und es öffnete sich einer breiteren Öffentlichkeit (was ein Indiz für die schwindende gesellschaftliche Bedeutung der Familie sein mag, in deren kleinerem Rahmen das Papiertheater im 19. Jh. seine breiteste Entfaltung entwickelt hatte). Papiertheater wurde, wenn auch noch sehr vereinzelt und ohne großes Echo zum Thema von Museumsausstellungen.
Die soweit mir bekannt erste Ausstellung wurde 1976 im Berliner Museum für Deutsche Volkskunde (heute Museum Europäischer Kulturen) eröffnet. 1981 gab es im Rahmen einer kleinen Ausstellung in der Theatergalerie der Stadt Remscheid unter der Leitung von Dr. Konrad Vanja (damals noch Leiter des Heimatmuseums, später Direktor des oben genannten Berliner Museums) eine „Freischütz“-Aufführung. Ein Zeichen dafür, dass, wenn auch vereinzelt, das Papiertheater noch immer Liebhaber gehabt hatte.
Im gleichen Jahr haben Hildegard Metzsch und ich in Hamburg die m+n-Reprise gegründet, um aus unserem Fundus von Scholz-Bogen Nachdrucke zu vertreiben. Das war aus verlegerischer Sicht zwar ein schlechtes Geschäft, aber ein wunderbarer Weg, um im In- und Ausland Gleichgesinnte zu finden. Es war der Magnet für die Nadeln im Heuhaufen.
Einer dieser Gleichgesinnten war Dr. Hartmut Lange aus Kiel. Der fragte eines Tages: „Könntet ihr euch vorstellen, dass wir in Kiel eine Papiertheater-Ausstellung machen?“ Und ob wir konnten!
„Knallrot, Blitzblau und Donnergrün … Papiertheater gibts zu sehn!“
Unter diesem Titel (frei nach dem Reklamespruch des Neuruppiner Bilderbogen-Verlegers Gustav Kühn) wurde am 16. Januar 1983 im historischen Warleberger Hof in Kiel die Ausstellung eröffnet. Die wohl erste Papiertheater-Ausstellung in Norddeutschland.
Bereichert durch Leihgaben anderer Museen wie des Museums für Hamburgische Geschichte und privater Sammler. Und dank der jungen engagierten Kuratorin Dr. Gudrun Siefers-Flägel bis heute für mich die schönste Ausstellung zu unserem Thema.
Begleitet wurde die knapp dreimonatige Ausstellung von Vorträgen, Führungen, Bastelnachmittagen für Kinder und neun Aufführungen von Spielern aus dem lokalen Raum. Sie weckte großes Interesse und sollte nicht folgenlos bleiben.
„DON CHICO WILL FLIEGEN“, FACTO TEATRO HEBT 2011 IN PREETZ AB
So wanderte die Ausstellung ganz oder teilweise durch verschiedene Orte Norddeutschlands nach Stade, Schloss Etelsen bei Bremen und bis ins Dumont-Linde-mann-Museum in Düsseldorf. Diese Ausstellung widmete sich ganz dem überlieferten Papiertheater und doch öffnete sie aus meiner Sicht das Tor zu einer neuen Ära des Papiertheaters. Ein bis heute lebendiges und aktives Beispiel dafür ist der damals noch sehr jugendliche Rüdiger Koch, den die Ausstellung so stark inspirierte, dass er bis heute für die Entwicklung des Papiertheaters eine wesentliche Rolle spielt.
Knapp 15 Jahre später, 1997, hatte für mich eines der schönsten Stücke des modernen deutschen Papiertheaters in der Marienkirche zu Barth in Mecklenburg Premiere: „Von den Fischer un siene Fru“.
Basierend auf der ersten Niederschrift des Märchens durch den Maler Philipp Otto Runge in niederdeutscher Mundart hatten Rüdiger und Dorett Koch das Stück für das Papiertheater eingerichtet. Vetter Thomas Hell komponierte dazu eine Musik für Orgel und Blockflöte, die er zusammen mit seinem Bruder Michael Hell spielte. Die Ausstattung für die Drehbühne mit Rundhorizont hatte Birgit Hampel entworfen. Auf der kleinen Bühne wurde die Weite der See gegenwärtig.
Bis heute verbindet das Kochsche Papiertheater „Invisius“, nunmehr in Berlin beheimatet, seine zahlreichen Vorstellungen häufig auch mit kleinen Ausstellungen und Workshops.
Zurück in die 80er Jahre: Der große Anklang der Ausstellung ermunterte zu zwei weiteren nun Internationalen Papiertheater-Festivals in Kiel. Anlass waren 1986 das 20. und 1991 das 25. Jubiläum der Theaterfreunde Kiel, deren 1. Vorsitzender Dr. Hartmut Lange war. So beförderte wieder mal das große Theater das kleine.
BEREITS DER DRITTE STREICH VON HAASES PAPIER- THEATER: „VOM ZAUBER DES RHEINS“, PREETZ 2012
1986 titelte die Presse bereits „Von der Klassik bis zur Moderne“. Die Klassik prominent vertreten durch den Nestor des Papiertheaters, den 72-jährigen Londoner George Speaight. Die Moderne gekennzeichnet durch Stücke, die selbst entworfen und gezeichnet sind. In einem unveröffentlichten Manuskript aus den 80er Jahren schrieb Hildegard Metzsch: „Dennoch geschieht etwas auf der Papiertheater-Szene: Es entstehen ,moderne‘ Inszenierungen, die ihren Witz beziehen aus der Ambivalenz von formal Altüberliefertem und neuer, graphisch moderner Ausstattung. So hat Prof. Peter Krope in Kiel ,Peter und der Wolf‘ und Orffs ,Die Kluge‘ mit eigenen Figuren und Dekorationen neu für das Papiertheater eingerichtet. Und an der Kieler Universität hat es – veranstaltet von Peter Horn, Peter Krope und Hartmut Lange ,Projektunterricht am Beispiel des Papiertheaters‘ gegeben (Wintersemester 84/85). Das Ziel des Projekts: Figuren und Kulissen für eine komplette Aufführung herzustellen, die Aufführung zu inszenieren und an der Hochschule und für Schulen vorzuführen. Ausgewählt wurde Brechts ,Dreigroschenoper‘.“
Sie vertrat beim 1. Internationalen Papiertheater-Festival in Kiel unter den 14 Bühnen die Moderne. Ferner und nicht minder auch Heinz und Gerlinde Holland, die mit ihrer Inszenierung deutscher Balladen zu einer Institution werden sollten, Peter Schauerte-Lüke mit selbst entworfenem und gesungenem „Don Giovanni“, Per Brink Abrahamsen, Århus, mit „Orpheus in der Unterwelt“, und Ab Vissers aus Utrecht, der mit „Brave Margot“ (nach einem Chanson von Georges Brassens) derb-satirische Erotik auf die Papiertheater-Bühne brachte.
PAPIERTHEATER – INTERNATIONAL: FACTO TEA- TRO UND BARBARA STEINITZ MIT „BLAUE PFIRSICHE“, PREETZ 2013
Von einer Renaissance wollen wir nicht reden, wollen uns aber darüber freuen, daß die letzten 10 Jahre Papiertheater in Kiel nicht folgenlos geblieben sind …“, schrieb Hartmut Lange im Programm-Vorwort zum 2. Internationalen Papiertheater-Festival 1991. Aus der Fülle von neun Bühnen mit 14 Stücken sollen hier nur die herausgehoben werden, die aus heutiger Sicht einen wesentlichen Beitrag zur Moderne (in der bildenden Kunst würde man inzwischen von der klassischen Moderne sprechen) darstellen. „Grims Papieren Theater“ – Frits Grimmelikhuizen aus dem holländischen Deventer zeichnete und inszenierte „Massel und Schlamassel“, ein Märchen von Nobelpreisträger Isaac B. Singer. Die ergreifende kindhafte Schlichtheit wurde musikalisch begleitet mit Aufnahmen von Giora Feidman, dem „König des Kletzmer“, der heute mit seiner Klarinette alle großen Konzertsäle füllt, und den die meisten von uns bei der Gelegenheit vermutlich zum ersten Mal gehört haben. Grimmel wird einige Jahre später in der Geschichte des Papiertheaters eine bedeutende Rolle spielen.
Svalegangens Dukketeater“ – Per Brink Abrahamsen bearbeitete Tania Blixens Roman „Ehrengard“ für seine professionelle Bühne. Für die traditionalistische dänische Papiertheater-Szene eine mutige Inszenierung. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Bühnenbilder und Figuren der englischen Zeichnerin Dodie Masterman in ihrem neoviktorianischen Stil.
„Theater für Mich“ – Zbigniew Mich aus Warschau und Düsseldorf wagte sich an eine „Hommage an Samuel Beckett“, den lange umstrittenen Vertreter des „Absurden Theaters“ und Nobelpreisträger. Inzwischen hatte das Papiertheater aber auch an anderen Orten neue Liebhaber und Spieler gefunden. 1990 gründeten Helmut Wurz und Dietger Dröse im Hanauer Schloss Phillipsruhe das erste ständige Papiertheater-Museum Deutschlands. Es regte neue Spieler an und wurde zu einem Zentrum des Papiertheaters, in dem 1992 auch der Verein Forum Papiertheater gegründet wurde.
Das 1. Papiertheater-Symposium des Vereins in Berlin wurde 1993 zum Auslöser für jährlich stattfindende Vorstellungen im Märkischen Museum. Beflügelt wurden sie durch den unermüdlichen Enthusiasmus der Kuratorin Bärbel Reißmann und kleiner Bühnen wie des Hoffmannschen Papiertheaters oder Regine Mahlers „Berliner Papiertheater“. Heute sind Papiertheater-Vorführungen selbstverständlicher Bestandteil der Programmhefte der Stiftung Stadtmuseum Berlin. „Es ist nichts, nur Papier, und doch ist es die ganze Welt“, dieses Zitat des dänischen Schriftstellers Peter Høeg wurde 1998 zum Motto der großen Ausstellung der Sammlung Schenstrøm (er war der Sohn des Pat vom Komikerduo Pat und Patachon) im Landesmuseum Oldenburg. Von ihr ist uns eine kleine aber feine Dauerausstellung erhalten geblieben.
EIN BISSCHEN EROTIK IN „EHRENGARD“, SVALEGANGENS DUKKETEATER, PREETZ 2006
In der Papiertheater-Ausstellung 2000 im Lübecker St. Annen Museum wurden wohl erstmalig auch Zeugnisse des modernen Papiertheaters gezeigt. Das Germanische National Museum, Nürnberg, eröffnete 2002 zu seinem 150-jährigen Jubiläum seine Schausammlung „Spielwelten“ neu. Darin fand auch die bekannte Wiener Papiertheatersammlung von Heino Seitler einen dauerhaften Platz.
Bereits 1988 hatte ein kleiner Kreis um Dirk Reimers das 1. Preetzer Papiertheatertreffen veranstaltet. Aus diesem lokalen Ereignis der Kleinstadt unweit Kiels wurde jedes Jahr für drei Tage die „Welthauptstadt des Papiertheaters“, so offizielle Vertreter der Stadt und des Landes Schleswig-Holstein in ihren Ansprachen. Bereits das 2. Treffen wurde formell zu einer Veranstaltung der Volkshochschule.
Die ersten ausländischen Bühnen kamen aus Dänemark und den Niederlanden. Sie pflegten – insbesondere die Dänen, aber auch viele deutsche und englische Spieler – das traditionelle Papiertheater. Die Szene entdeckte und belebte das fast vergessene Alte wieder und regte zu Neuem an – die Renaissance des Papiertheaters. 1995 schrieb Frits Grimmelikhuizen: „Als ich in diesem Jahr wieder nach Preetz kam, war ich erstaunt. Das Preetzer Papiertheatertreffen war ,auf einmal‘ professionell geworden, es war ein richtiges ,erwachsenes‘ Festival geworden. Fanfaren und Komplimente für die Organisation!!!“ Daran war Grimmel maßgeblich beteiligt: Beim Treffen 1993 bekamen wir bereits seine ersten Kandinsky-Experimente mit Grimmels Kompositionen elektronischer Musik zu sehen und zu hören.
1995 erlebten wir dann in Preetz die Welturaufführung von „Variationen über Kandinsky – Ballettkomposition für Formen und Farben inspiriert von Arbeiten und Ideen von Wassily Kandinsky“. Der folgten 2187 Vorstellungen in fast allen Ländern Europas und in den USA. Ein einmaliger Rekord – nicht nur für das Papiertheater. Zur gleichen Zeit, zum Hindemith-Jahr 1995, ereignete sich im Hanauer Papiertheater-Museum eine für die Renaissance des Papiertheaters kaum weniger wichtige Premiere. Der Kunstpädagoge Helmut Wurz richtete den Einakter „Das Nusch-Nuschi“, die früher einmal skandalumwitterte „Jugendsünde“ Paul Hindemiths, für das Papiertheater ein. Über viele Jahre d e r Erfolg des Hanauer Papiertheaters.
Zwischenspiel: Mit einem lachenden und einem weinenden Auge kämpft sich der Chronist durch die Papierberge von Programmzetteln, Dokumentationen und Zeitschriften der letzten rund 40 Jahre Papiertheatergeschichte. Lachend ob der wunderbaren Erinnerungen; weinend ob der unendlich vielen Aufführungen, die hier nicht Platz finden – wie die meistens köstlichen traditionellen Aufführungen von „Pollidors Papiertheater“; die dank der Textildesignerin Inge Severin in ausdrucksvollen Farben leuchtenden Stücke des Papiertheaters „Severinus“ (wie gerne möchte ich noch einmal die verjazzte „Carmen“ hören und sehen … oder mit Frank Buttlers Münchner im Himmel sein) und, und, und … Aber in dieser Chronik ist nun mal kein Platz für alle. Es gilt Meilensteine zu setzen für die Entwicklung des Papiertheaters.
JOE GLADWIN UND HELEN PORTER ZEIGEN IHR KOMÖDIANTISCHES TALENT IN „BLUEBEARD“, PREETZ 2005
Und im gleichen Jahr – erst im Rückblick wird deutlich, wie entscheidend 1995 für die Renaissance des Papiertheaters und das Preetzer Treffen war – baute erstmals der „Titan of Toy Theatre“ seine unscheinbare kleine schwarze Bühne in Preetz auf. „Robert Poulter‘s New Model Theatre“ aus dem englischen Ramsgate stellte sich mit drei Einaktern vor. So unscheinbar Poulters Theater war – vom Proszenium und Schiebevorhang bis zum Bühnenboden schwarz – so groß die Aufmerksamkeit, die er erweckte. Manche seiner Bühnenöffnungen kaum größer als eine Postkarte.
Der Bühnenboden aus Leisten, die auf ein Bodenbrett geklebt Fugen bilden, in denen Figuren und Kulissen an Pappsteifen geführt werden. Der Hintergrund – auf Englisch ein Revolving Background – ein manchmal mehrere Meter langer Papierstreifen, auf den zum Beispiel eine Landschaft gemalt ist und der von einer senkrechten Rolle auf der einen Seite auf eine andere Rolle an der anderen Bühnenseite gewickelt wird und so den Eindruck der Bewegung vor einer sich wandelnden Szenerie vermittelt. Techniken, die Poulter nicht erfunden, aber wieder in Erinnerung gebracht hat. In der Papiertheater-Szene aber geradezu einmalig seine rasante, expressive Kunst des Zeichnens und Inszenierens. Mit wenigen Strichen entsteht ein auf der Bühne überzeugender Charakter. Und davon für jedes Stück eine Fülle. Bis zu den 357 Figuren für seinen „Pizzaro“.
Robert Poulters Stücke sind von der Idee, Recherche, Gestaltung, Inszenierung bis zur Aufführung komplett sein Werk – Gesamtkunstwerk nennt er es selbst. Seine Themen sucht er im weitesten Sinne im Bereich der Kunst. Nur einige wenige Beispiele aus dem umfangreichen Repertoire: „Merry Margate“ schildert das künstlerische und gesellschaftliche Treiben der letzten 250 Jahre in dem Seebad; „Mr. Turner gets steamed up“ ist ein Stück Biographie des großen Malers; „This I“ ein Stück Biographie des Ende des 19. Jh. in England berühmten Theatermenschen Henry Irving; und „Black Eyed Susan“ die Reprise eines einstmals beliebten Melodrams.
1980 hatte Robert Poulter begonnen, sich mit dem Papiertheater zu beschäftigen; 1995 – und seitdem jedes Jahr mit einem neuen Stück – trat er in Preetz auf; und 1999 veranstaltete er in Seattle den ersten von sechs Workshops in den USA – von Kalifornien bis New York. Zu den papiertheatralischen Früchten dieser works komme ich später … Denn noch ein anderer „Titan“ betrat in diesem Jahr im wahrsten Sinne des Wortes die Preetzer Bühne: der französische Puppenspieler Alain Lecucq mit seinem „Théatre et Papier“.
Von den Engländern waren wir es bereits gewöhnt, das sie sich nicht in deutscher Tradition hinter einer Verkleidung verbergen, sondern sichtbar als Person hinter dem Papiertheater agieren. Wie Joe Gladwin, der auf wie hinter der Bühne von „Paperplays Puppet Theatre“ sein komödiantisches Temperament entfaltet.
Alain betrat als Schauspieler und Regisseur in einer Person die große Bühne und spielte auf und mit mehreren Papiertheatern und Versatzstücken, mit denen er die Handlung und ihre verschiedenen Schauplätze illustrierte. Er sprengte als Erster in Preetz den engen Rahmen der kleinen Bühne. Verblüffung, Begeisterung, Skepsis beim Publikum – „Ist das noch Papiertheater?“ (eine Frage, die in den folgenden Jahren noch öfter gestellt wurde). Diese Spielweise ist zugleich eine Befreiung, als auch eine Gefährdung der für das Papiertheater so wichtigen „Guckkasten-Magie“. Nur eine starke Bühnenpräsenz des Schauspielers kann diesen Verlust ausgleichen. Anders ausgedrückt: eine andere Form der Magie. Inzwischen verdanken wir Alain Lecucq, später gemeinsam mit seiner Frau Narguess Majd, viele durch seine Präsenz und Kreativität geprägte Inszenierungen und – eine Reihe von Festivals in der französischen Champagne. Durch ihre phantasievolle kreative Moderne haben diese Festivals dem Preetzer Treffen viel zurückgegeben. Der französische Schauspieler Eric Poirier machte den Tisch zu seiner Bühne. Auf dem Tisch agierte er temperamentvoll mit seinen Figuren, erschuf und vernichtete sie vor den Augen der Zuschauer mit dramatischen Gesten.
Ohne die Begegnung mit Robert Poulter wäre ich niemals wieder zum Papiertheater gekommen“, sagt der Maler und Grafiker Walter Koschwitz, der erstmals 2003 auf dem 16. Preetzer Treffen vertreten war. Auf seinem „Theater der urbanen Kriminalität“ setzt er sich, unterstützt von seiner Frau Megi, in Form eines Zyklus von Kriminalgeschichten mit der jüngeren Geschichte Berlins auseinander. Beginnend mit den 20er Jahren, aber zu- gleich „eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit“. Seine expressiven Bilder sind faszinierend und oft von beklemmender Eindringlichkeit.
ERIC POIRIER FAST TRADITIONELL MIT „DRACULA‘S DAUGHTER“, PREETZ 2004
Im Gegensatz zu seinem Anreger Poulter, der Technik so weit als möglich vermeidet (er kommt häufig mit drei bis fünf dimmbaren Glühbirnen und einem Tonträger aus), hat Koschwitz von Anfang an für seine Inszenierungen fast alle technischen Möglichkeiten benutzt. Eigene Zeichnungen, Fotos und anderes Bildmaterial werden am Computer bearbeitet, die Stimmen häufig verzerrt. Seine bisher weitestgehende und vermutlich erstmalige technische Neuerung erlebten die verblüfften Zuschauer 2012. Erst gegen Ende des Stückes „Kokain – Ein Dichterschicksal in Berlin“, manchem erst beim Blick hinter die Bühne, wurde ihnen klar, dass der Bühnenhintergrund ein – Flachbildschirm war.
Nach dem Vorbild des Poulterschen Rollhintergrundes hatte Koschwitz die Hintergründe mit Mitteln des Papiertheaters gestaltet, aber dann abgefilmt und als Film über den Bildschirm laufen lassen. Willers Amtrup, der das Papiertheater über Jahrzehnte und bis in seine letzten Lebenstage als einfühlsamer Kritiker und Chronist begleitet hat, schrieb einmal über Walter Koschwitz: „Walter zerstört das (Papier)Theater nicht, sondern fördert es in grandioser Weise, führt es ,zu neuen Ufern‘ … Für mich ist Walter Koschwitz einer der eigenständigsten, eigenwilligsten und kreativsten Papiertheaterspieler, die ich kenne, und in seiner Art sicherlich singulär!“
Er vergleicht ihn mit Poulter. So, wie wir dem der Klassik des englischen Papiertheaters verbundenen virtuosen Schau- und Papiertheaterspieler Peter Baldwin zu verdanken haben, dass Robert Poulter nach Preetz gekommen ist, so ist es wiederum dessen Verdienst, dass amerikanische Bühnen nach Preetz eingeladen worden sind. In Tampa in Florida hatte er die Puppenspieler Michael und Valerie Nelson davon überzeugt, dass Flachfiguren ihren eigenen Reiz haben. Wenn sie ihr „Little Blue Moon Theatre“ in Preetz aufbauen, darf man sich auf eine ebenso witzige wie erotische Aufführung freuen; oft begleitet von Valeries großartigem Liedgesang.
Der ebenfalls mehr das traditionelle Papiertheater pflegende amerikanische Brother Jon Bankert vermittelte 1999 den ersten Preetzer Auftritt der New Yorker Gruppe „Great Small Works“. John Bell, Trudi Cohen, Jenny Romain und Roberto Rossi „verstehen sich als Theaterkollektiv, das politisches, sozial engagiertes Theater macht. Papiertheater ist hierbei nur ein Medium. Inspiriert durch Walter Benjamin und die Kollagetechnik John Heartfields entwickelten sie während des Golfkrieges verschiedene Episoden eines ,Toy Theatre of Terror as Usual‘ (der übliche Terror übersetzt es der Autor), einer neuen Form politischen Papiertheaters“, so stellte sich die Gruppe im Programmzettel vor.
Wer nun erwartete, mit einer intellektuell verquasten Veranstaltung gelangweilt zu werden, wurde auf das Schönste enttäuscht. John Bell erzählte als Moritatensänger die Geschichte des Papiertheaters, Jenny Romaines Song widmete sich dem kriegsstiftenden Rohstoff Oil und auf der Bühne regnete es Dollarnoten und Spitzen gegen den US-Präsidenten – angrifflustiges politisches Kabarett vom Witzigsten.
PHOENIX PAPAIEREN TEATER: „DAS GEHEIMNIS DES WEISSEN PFERDES“, PREETZ 2003
Das Papiertheater hat sich in weit gefasstem Sinne politischen Themen geöffnet. Zum Beispiel: „Great Small Works“ engagiert sich in „Three Books in the Garden“ für religiöse Toleranz. Die jungen Kanadier vom „Petit Theatre de L’Absolu“ stürzen in revolutionärer Begeisterung auf ihrer kleinen Bühne noch einmal die Vendôme-Säule. Alain Lecucq engagiert sich in Jerusalem und erarbeitet gemeinsam mit Israelis und Palästinensern Stücke für das Papiertheater. Machtelt van Nieuwkerk aus Südafrika spielte auf ihrem „Mavani Model Theatre“ afrikanische Volksmärchen und setzte damit ein Zeichen gegen Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit.
In Preetz folgte 2004 Marlis Sennewald auf Dr. Jürgen Schiedeck, der sich als Leiter der VHS Preetz auch um das Papiertheater verdient gemacht hatte. Was in unserer Szene zunächst Besorgnis auslöste, erwies sich als großer Glücksfall. Marlis Sennewald entdeckte spontan ihre Neigung zum Papiertheater und öffnete sich besonders dessen neueren Formen. Eine ideale Ergänzung zu Dirk Reimers, dem Wahrer der Tradition. Das Preetzer Treffen war endgültig zur internationalen Drehscheibe des Papiertheaters geworden.
Beim 23. Treffen 2010 entfaltete erstmals das „Facto Teatro“ aus Mexiko mitreißend temperamentvoll die Mystik, Spielfreude und Musik seiner Heimat. Jubelnder Beifall, der die Gruppe bei ihrem zweiten Gastspiel im darauf folgenden Jahr bereits empfing.
Leuchtfeuer können in der Seefahrt Warnung und Wegweiser sein. Solch ein noch fernes Leuchtfeuer auf dem bewegten Meer des Papiertheaters kündigte Fred Ladoué, Frankreich, 2011 beim 24. Preetzer Treffen mit seiner „Compagnie Volpinex“ und seiner Dornröschen-Version an: Dornröschen nacherzählt mit Figuren aus Burda Moden 1979 (übrigens sind aus Modejournalen ausgeschnittene Figuren ein Rückgriff auf die Frühzeit des Papiertheaters). Auf dem Programmzettel heißt es: „Mit raffinierter Projektionstechnik werden Papiertheaterelemente zu einer höchst amüsanten Komödie zusammengefügt, rasant und komödiantisch gespielt von Fred Ladoué … Fotomontagen, Multimedia, live gesprochen.“
Ein Jahr später, beim 25. Treffen in Preetz ist das Leuchtfeuer der „Compagnie Volpinex“ – Warnung oder Hoffnungsschimmer für das Papiertheater? – unübersehbar. Fred Ladoué und die wunderbare Schauspielerin Marielle Gautheron spielen „L'étrange Cas – Der seltsame Fall“. Ein Stück in Anlehnung an die Erzählung von Robert L. Stevenson „Der Seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“.
KEIN STOFF KANN GROSS GENUG SEIN FÜR RÖMERS PRIVATTHEATER: „JOSEPH UND SEINE BRÜDER“, PREETZ 2003
Iris Förster schreibt in ihrer Rezension in Das PapierTheater Nr. 29, November 2012 (www.papiertheater.eu) und Printausgabe Nr. 13, Dezember 2012: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Da wird das Publikum vor dem Stück in zwei Gruppen aufgeteilt, die einen sitzen diesseits, die anderen jenseits einer großen Pappwand und erleben gleichzeitig zwei völlig unterschiedliche Aufführungen. Man ahnt ja, dass das alles irgendwie zusammenhängt, aber erst in der zweiten Hälfte des Stückes, sozusagen nach dem Seitenwechsel, erschließt sich die Idee. Auf der einen Seite wird die Geschichte der Verlobten von Dr. Jekyll gezeigt, die in der Psychiatrie gelandet ist und sich in Tagträumen verliert, auf der anderen Seite experimentiert ihr behandelnder Arzt mit Flüssigkeiten, Geräten und Texttafeln und erzeugt dabei Ton und Bild für alles, was sich hinter der Mauer abspielt. Das umgeklappte Regal wird zur Miniaturbühne, eingeblendete Texttafeln erläutern die Handlung. … Schon im letzten Jahr hat die Compagnie Volpinex das Papiertheater mit seinen technischen Möglichkeiten großzügig ausgereizt, dieses Jahr gehen sie noch weiter. Zu weit?“
Aus der Besprechung von Uwe Warrach in der gleichen Ausgabe möchte ich noch ergänzen: „Das ist faszinierend, originell und professionell gestaltet und gespielt … Eine packende Aufführung gleichwohl, der starke Beifall deshalb verdient, das Ganze durchaus angemessen für ,richtiges Theater‘ – aber das Papiertheater an sich muss schon geduldig sein …“
Ist das Spiel auf dem Papiertheater ein Anachronismus?" Diese provokant gemeinte Frage ergab sich aus einer privaten Diskussion zwischen Per Brink Abrahamsen und mir. Sie wurde dann zu einem Hauptthema des 5. Symposiums des Papiertheater-Vereins 1997 in Stuttgart (nachzulesen in PapierTheater Nr. 8). Per Brink Abrahamsen verdankten wir zunächst eine auch heute noch wichtige Klarstellung: „Der Bereich Papiertheater kann in zwei Teile unterteilt werden: den Papier-Aspekt des Papiertheaters und den Theater-Aspekt des Papiertheaters. Wir beschäftigen uns jetzt mit dem Letzteren. Papiertheater als Theater ist Teil des Mediums Theater, Gattung Puppenspiel. Man kann es auch mit einer Sammelbezeichnung Animationstheater nennen. Eine kurze Definition: Im Animationstheater (Puppentheater) gibt es eine vollständige Trennung zwischen Rolle und spielender Person … Wir betrachten Papiertheater schlicht und einfach als ein Theatermedium, mit dem man öffentliche Theatervorstellungen … gibt … Wenn auch öffentliche Papiertheatervorstellungen relativ neu sind, zeigt die mehr als zehnjährige Spielpraxis doch, dass das Papiertheater ein Theatermedium ist …“
Ich vertrat und vertrete auch heute noch die Meinung: „Man muß diskutieren: Warum muß ich auf dem Papiertheater spielen, wo sich jeder heute ’ne Videokamera leisten kann, seine eigenen Filme drehen und die wahnsinnigsten Tricks machen kann? …“ Per Brink Abrahamsen: „Das Argument dafür ist schlicht und einfach, dass Papiertheater, wie auch das Theater, live, lebendig ist. Es geschieht in diesem Moment … mit der Möglichkeit des Scheiterns oder des Erfolgs in jedem Moment …“ Christian Reuter, nachmaliger langjähriger Vorsitzender des Papiertheatervereins: „Auch Papiertheater ist eben Theater und es wurde immer versucht, sich damit der historischen Theatertechnik anzunähern. Nicht ohne Grund wurde alles, was das barocke Theater an Technik bietet, auch im Papiertheater mit den technischen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit nachgebildet, sogar bis zur Automatisierung. … Also die Technik darf benutzt werden.“ Heinz Holland: „Weil vorhin die Frage kam: Was es denn ist, mit den technischen Mitteln. Was dürfte, was dürfte nicht! Es darf ja alles gemacht werden. Es muß nur die Magie … desjenigen, der Theater spielt, vorhanden sein.“
Diese Diskussion von 1997 scheint mir noch immer notwendig (siehe die Inszenierungen der Compagnie Volpinex), wenn auch die Entwicklung manche der Eingrenzungen und Befürchtungen überrollt hat. Ja, Extreme häufig einen ganz besonderen Reiz haben. 2007 erlebten wir in Preetz zum ersten Mal die Tschechin Hana Vorísková mit ihrer „Theater Musik Box“, eher Guckkasten als Bühne, vor der jeweils nur ein einziger Zuschauer Platz hatte. „Eine Reise“ hieß das Stück ohne Worte, halb Papiertheater, halb Schattentheater, begleitet von sanfter Musik. „Das war still, anrührend und überzeugend“ schrieb Willers Amtrup in seiner Besprechung.
NIEMAND BESCHWÖRT DIE URBANE KRIMINALITÄT ÄSTHETISCHER ALS WALTER KOSCHWITZ: „DIE RÜCKKEHR DES DR. MACKUSE“, PREETZ 2003
Das andere Extrem: Das „WIENERpapierTHEATER“, Kamilla und Gert Strauss, Technik Manfred Heller, versprüht in seiner jüngsten Inszenierung „Die Fledermaus“ den ganzen mitreißenden Charme der Wiener Operettenseligkeit, – aber hinter der Bühne verbirgt sich miniaturisiert die nahezu komplette Technik einer großen Bühne. Ein „ewiges Thema“ ist auch auf dem Papiertheater die Weihnachtsgeschichte. Schon früh hatte Regine Mahlers „Berliner Papiertheater“ das Stück im Repertoire: in schönen einfachen, fast kindlichen Bildern. Hana Vorísková präsentierte die Geschichte 2008, um Willers Amtrup zu zitieren, „… geradezu weihevoll … Beim Licht einer Kerze las Vedralova (Hanas Partnerin d. A.) … zunächst jeweils die entsprechende Textpassage und reichte dann die Kerze betont gemessen an Vorísková weiter …“
Ganz anders Uwe Warrachs heutige Fassung für seine „Papieroper am Sachsenwald“, „Die Sache mit dem Stern“. Er erzählt die Geschichte heiter, satirisch aus der Sicht der drei Weisen, und doch so, dass auch schon Pastoren ihr Freude daran hatten. Beliebte und verbreitete Themenvorlagen sind auch Bilderbücher. Von Heike Ellermann, Oldenburg, bis Barbara Steinitz, Berlin, haben viele der Autoren/innen selbst ihre Bilder in Papiertheater-Figuren verwandelt.
Eine fröhliche Urständ erlebte Heinz und Gerlinde Hollands Papiertheater 2010 in Preetz. „Hellriegels Junior“ heißt das Theater, mit dem der damals achtjährige Willem Klemmer aus Kiel, einfühlsam begleitet von Großmutter Gerlinde Holland, in die Fußstapfen seines verstorbenen Großvaters Heinz trat. Das Bilderbuch „Ich bin der Stärkste im ganzen Land“ diente als Vorlage der selbstbewussten Inszenierung. Willem ist auch nicht das einzige lebende Argument gegen das Lamento über die Vergreisung der Papiertheater-Szene. Hier seien einige Bühnen genannt, deren Spieler mitten im Leben stehen und von denen wir noch einige Ideen für die Renaissance des Papiertheaters erwarten dürfen.
EIN VATER-TOCHTER DEBÜT MIT BODES KOFFERTHEATER: „HÄNSEL UND GRETEL“, PREETZ 2004
Römers Privattheater“ aus Wildeshausen begann 1989 als deutsch-japanisches Familienvergnügen von Horst, Motoko und den beiden Töchtern Maria und Bärbel Römer. Texte der Weltliteratur von Homers „Odyssee“ bis Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Episoden aus fernöstlichen Epen wurden von Horst Römer in witzige und literarisch bemerkenswerte Kurzfassungen gebracht. „Haases Papiertheater“ aus Remscheid war 2008 zum ersten Mal in Preetz dabei mit Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Mit Willers Amtrups Worten „… ein überaus gelungenes Debut!“ Das aber an Originalität noch überboten wurde von späteren Inszenierungen wie „Die Farben des Südens“, in der berühmte Bilder van Goghs auf der Bühne dreidimensional erscheinen, oder „Vom Zauber des Rheins“, in der im Rahmen einer Dampferfahrt alte Rheinsagen lebendig werden.
Bodes Koffertheater“ aus Bremen überraschte 2004 das Preetzer Publikum zum ersten Mal. Jens Schröder und Tochter Pauline haben einen alten Koffer mit einem Geheimnis geerbt. Sie legen den Koffer auf den Tisch, öffnen ihn und heraus entfaltet sich ein Papiertheater. Ihr Spielplan, live gesprochen, umfasst Märchen wie „Hänsel und Gretel“ bis zu Doyles Sherlock Holmes und zeichnet sich aus durch originelle Inszenierungsideen.
Die Einladungen zu Gastspielen nehmen zu. Neue Festivals etablieren sich. Wie das „Internationale Papierentheater-Festival“ auf dem Fischmarkt in Harderwijk, zu dem Harry und Tieneke Oudekerk in verschiedene Privathäuser des kleinen niederländischen Ortes einladen. Mit der Renaissance des Papiertheaters wurde es auch von Hochschulen, insbesondere Pädagogischen Fakultäten und Kunsthochschulen, entdeckt. Bereits beim 1. Preetzer Treffen wirkte der Pädagogik-Professor Krope von der Universität Kiel mit, der dort auch Seminare zu unserem Thema veranstaltete. Seit einigen Jahren ist die Kieler Muthesius Kunsthochschule jedes Jahr in Preetz vertreten. Unter der Leitung von Prof. Dr. Ludwig Fromm entwickeln Studentinnen und Studenten als Semesterprojekt jährlich mit viel Phantasie und frappierendem Einsatz moderner technischer Mittel eigene Stücke.
VON ANFANG AN DABEI: PETER SCHAUERTE-LÜKE HIER MIT „DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN“ UND MITSPIELERIN SABINE HERDER, PREETZ 2007
In Koblenz erarbeitete Prof. Dietrich Grünewald mit Studenten der Fachrichtung Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik 1997 die m. E. didaktisch beste Papiertheater-Ausstellung. Im gleichen Jahr schrieb Prof. Dr. Jens Thiele von der Uni Oldenburg in den BDK-Mitteilungen 2/97: „Die Atemlosigkeit der dahineilenden Bilder läßt … die Bilder selbst zerfallen. … Wer sich auf Bilder bewußt einlassen will, muß sie sich zurückerobern, der muß im Strom der Bilder einen Anker werfen, um Bilder wieder sichtbar zu machen …“ Ein solcher Anker ist für Thiele das Papiertheater.
2000 stellten im Märkischen Museum Studentinnen des Studienganges Bühnen- und Kostümbild der Hochschule der Künste Berlin, Leitung Prof. Martin Rupprecht, auf sechs Modellbühnen ihre Papiertheater-Version des „Käthchen von Heilbronn“ aus. Bei der Eröffnung belebten Peter Schauerte-Lüke und Per Brink Abrahamsen jeweils mit ihrer Kleist-Version die Ausstellung.
In PapierTheater Nr. 22, August 2002, schrieb Christian Reuter: „Vier Examensarbeiten mit dem und über das Papiertheater (eine Seminararbeit und drei Arbeiten für die 2. Staatsprüfung, Lehramt, d. A.) sind in den letzten 12 Monaten entstanden … Gemeinsame Erfahrung und Ergebnis aller Arbeiten aber ist:
– die Anregung von Phantasie und Verständnis- bildung,
– die fruchtbare Gruppenbildung mit Einsatz und Anerkennung unterschiedlicher Begabungsschwerpunkte,
– die Aktivierung kreativer Kräfte und Tätigkeiten,
– die Freude an der Lernarbeit und hohes Lern- ergebnis,
– die Faszination der dreidimensionalen dramatischen Darstellung – aktiv und passiv, -
– Erfolgserlebnisse für alle.
Und die Hoffnung, dass so auch die Liebe zum großen Theater geweckt wird.“ Christian Reuter berichtete auch über die Arbeit mit behinderten Schülern der Berufspraxisstufe am Franz-Sales-Haus in Essen, die im Papiertheater Ausdruck und Freude finden.
Eine Studentin, die ebenfalls an einer Seminararbeit schrieb, fragte mich vor einigen Jahren, wie man das Papiertheater fördern könne. Meine Antwort: Papiertheater spielen.
Februar 2013, Norbert Neumann, © by author
LINKS: ALAIN LECUCQ UND NARGUESS MAJD AUF DEM FESTIVAL IN CHARLEVILLE-MÉZIÈRES, 2015 RECHTS: MUTHESIUS KUNSTHOCHSCHULE – PROF. LUDWIG FROMM UND STUDENT/INNEN: „DER SPINNER“, 2012
Das PapierTheater Nr.42 SEITE 5 Oktober 2015
Einiges war anders, aber alles ebenso schön wie immer.
von Uwe Warrach
Petrus fiel es erst am Sonnabend ein, dass zum Preetzer
Papiertheatertreffen gutes Wetter gehört, im Laufe der Sonntagnacht
vergaß er es wieder. Das soll hoffentlich nicht wieder vorkommen.
Sonntagfrüh gegen 7 Uhr wurden einige von uns, die im Hotel Schellhorn
schliefen, durch Gewehrschüsse geweckt. Das soll bisher nicht
vorgekommen sein. Aber der Freude an unserem Festival tat all das
keinen Abbruch.
Es gab fünf Debüts, die alle viel Zuspruch fanden. Und zwei neue
Spielstätten wurden aufgetan: sehr reizend das Ladengeschäft der
Goldschmiede, das mit seinen funkelnden Vitrinen dem „Hokusai Museum“
von Römers Privattheater einen adäquaten Rahmen bot. Über die neu
erschlossene Kammer im Erdgeschoß des Schulgebäudes zeigte sich Robert
Poulter not amused, doch war die Örtlichkeit der Größe seiner Bühne
nicht ganz unangemessen, und Robert ist ein bescheidener
Mensch.
Wir haben es bisher zwar nicht unterlassen, aber wir möchten diese
Ausgabe nutzen, um zwei besonders dienstbare Geister besonders
auszuzeichnen: den Hausmeister Peter Kock und den Koch Erich Hansen. Da
ein guter Hausmeister die Seele eines Betriebs darstellt und Essen und
Trinken Leib und Seele zusammenhalten, sind beide nicht weniger
entbehrlich für das Gelingen des Ganzen wie die
Vorführungen.
Nicht unerwähnt soll bleiben die wie immer hervorragende Organisation,
und das um so mehr, als Marlis Sennewald in der Vorbereitungszeit
gehandi- oder besser: gelegicapt war. Auch wollen wir Dirk Reimers’
liebenswürdig geknurrte Begrüßung nicht übergehen, denn sich jedes Jahr
für dasselbe Thema immer Neues einfallen zu lassen ist auch nicht
einfacher als ein Stück zu schreiben.
Zu den einzelnen Aufführungen äußern sich Olaf Christensen, Sabine
Herder, Brigitte Lehnberg, Sarah Peasgood, Horst Römer, Jens Schröder,
und Uwe Warrach.
Meklenborg Dukketeater, Baldur Skygge/The Blue Fox
Søren Mortensen und Marie Thodberg, Dänemark
Ein Mann auf Fuchsjagd. Ich bin sofort eingefangen von den Bildern
isländischer Landschaft, die ich erst vor einigen Wochen im Original
gesehen habe. In der kargen, lebensfeindlichen Natur voll spröder
Schönheit steht da ein Fuchs, in der „schwarzbraunen Farbe der
vulkanischen Erde“, mystisch wie das Land, und sieht uns argwöhnisch an.
Wechsel: zunächst überraschend: Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch,
uns den Rücken zukehrend, schreibt mit deutlich hörbar kratzender
Feder, spricht dazu den Text seines Briefes. So beginnt die Geschichte
erzählend. Er muss ausholen, weil sie nicht ganz unkompliziert ist,
doch mir wurde es nicht zu lang, vielleicht, weil der ganze Ton stimmt,
die Bilder faszinieren, und weil man spürt, dass es eigentlich eine
schlimme Geschichte werden wird.
Es geht um Aberglauben, Bigotterie, Schuld und Sühne. Am Ende sind wir
wieder am Anfang, jetzt wird der Fuchs totgeschossen, doch den rächt
die Natur mit einem Erdbeben, unter dem der Jäger begraben wird.
Die eindringlichen Bilder hat Simon Eskildsen gemalt, der deutsche und
englische Text wird von dänischen Schauspielern gesprochen. Das
Meklenborg Dukketeater, trat zum ersten Mal in Preetz auf. Man möchte
es gerne wiedersehen.
Uwe Warrach
Robert Poulter’s New Model Theatre, The Descent
Robert Poulter, Großbritannien
Well, as always I was not to be disappointed with Robert’s new play
“The Descent”. A shorter presentation than usual but the 22 minutes
however was packed with the inevitable and seemingly impossible
constantly moving figures against a skilfully manipulated vertical
moving backdrop.
A swine being the central ‘character’, having dashed off into the
entrance of a mine shaft led us through a variety of depths and scenes
as he was chased by his master.
A first for Robert was his ‘bi-lingual’ narration which added extra
intrigue as I waited to hear which words had been carefully selected to
repeat in German – a clever idea which had practical motive I am sure
but also for me added extra drama and indeed humour to the theatrics of
the characters. The atmospheric quirky ‘jazz-like’ soundtrack suited
the rather surreal simplicity of observing a pig travelling down into
the centre of the earth for 22 minutes as he made acquaintancies
ranging from the Devil to the Ferry man or ‘Grim Reaper’.(a rather
super line when the master discovers his pig on the Ferryman’s boat:
“you’ve got my pig!”... “I know he won’t leave me alone”)
A favourite moment for me was when we were introduced to a
stereotypical white coated mad scientist surprised when his ‘monster’
rose from the bench said “how can this be – you have no heart?” with
the monster replying “more heart than you” and with that he escaped
with the pig. The swine reunited with his master having travelled
through the entire diameter of the earth found themselves alongside an
upside down Aussie shouting “welcome to Australia!” which was delivered
in a delightful Australian/Anglo/Deutsch accent!!
Sarah Peasgood
Zusammenfassung
Robert Poulters The Descent (in diesem Fall wohl am besten übersetzt
mit „Grubenfahrt“) war mit 22 Minuten kürzer als üblich, aber ebenso
vollgepackt mit sich dynamisch bewegten Figuren wie immer.
Seine Geschichte erzählt von einem Schwein, das auf der Flucht vor
seinem Halter in einen Minenschacht gerät, von dort aus in immer
größere Tiefen gerät und auf seiner Reise durch den Mittelpunkt der
Erde verschiedenen Gestalten wie dem Teufel, einem verrückten
Wissenschaftler oder dem Bootmann Charon begegnet.
Neu ist, dass Robert deutsche Begriffe in seinen englischen Text
einbindet, die der gruseligen Handlung einen komischen Aspekt
hinzufügen. Ein schräger Soundtrack begleitet die seltsam surreale
Geschichte adäquat. Am Ende ihrer Reise kommen Schwein und Halter bei
unseren Antipoden an, wo sie mit einem in charmantem
Englisch-Australisch-Deutschen Akzent gesprochenen „Willkommen in
Australien!“ begrüßt werden.
Papiertheater Fabula, Kalif Storch
Brigitte Lehnberg und Susanne Schuchardt, Braunschweig
Die beiden Newcomerinnen Susanne Schuchardt und Brigitte Lehnberg
bringen in Preetz das bekannte Märchen von dem Kalifen und seinem
Großwesir, die sich in Störche verwandeln und erst durch einen
Zauberspruch in ihre menschliche Gestalt zurückfinden. Dies geschieht
auf der sehr traditionellen Bühne in einer Weise, die auch in 40
Minuten keinen Moment langweilig wird.
Anmutige Kulissen, flotte Szenenwechsel, witzige Einfälle – auch
musikalischer Art – und überzeugende Figurinenführung bringen die
Handlung voran, der man mühelos und angeregt folgt, die Kinder sogar
gebannt. Gut vorstellbar, dass sie es nun selbst gerne nachspielen
möchten. Es gab zwar den Einwand (Erwachsener), zwei Sprecherinnen
sollten vielleicht nicht gerade ein Stück auswählen, das überwiegend
Männerrollen bietet, doch Susanne Schuchardt und Brigitte Lehnberg
treffen den vertrauten Ton, wie wenn Großmutter ein Märchen erzählt und
dann natürlich auch den Bösen Wolf zur Sprache bringen muss.
Uwe Warrach
Puppet Theater Arima, Erotokritos
Costas Zaimakis und Damiet van Dalsum, Griechenland
Vielleicht lässt sich Costas Zaimakis aus Griechenland, der zum ersten
Mal in Preetz auftrat, beschreiben als Moritatensänger, der an Stelle
der Bildtafeln und des obligatorischen Zeigestocks das Papiertheater
zur Illustration seiner Geschichten nutzt. Der stimmungsvolle, gekonnte
Gesang zur Gitarre verzauberte und war wesentlicher Bestandteil der
Aufführung.
Zaimakis verlegt die im antiken Athen spielende Liebesgeschichte
zwischen Aretousa, Tochter des Athener Königs Herakles, und
Erotoktitos, Sohn des Beraters ebendieses Königs, in das Mittelalter:
Wir sehen Thronsäle, Bälle am Hofe, Minnegesang und werden Zeuge eines
Ritterturnieres. Führt Zaimakis seine Figuren überwiegend von der
Seite, so erfolgt bei diesem Turnier die lebhafte Figurenführung von
oben. Auch der Spieler selbst erscheint ab und an über seinem Theater.
Lobend zu erwähnen ist noch die Unterstützung durch Damiet van Dalsum;
keine permanente und somit nicht wörtliche Übersetzung des
Dargebotenen, sondern eine an den wichtigsten Stellen dezent
eingesetzte Kommentierung des Geschehens.
Über ein Wiedersehen mit dem Puppet Theater Arima würde sicher nicht nur ich mich freuen!
Jens Schröder
Haases Papiertheater,
James Honk jagt Dr. Kamishibai
Martin und Sieglinde Haase, Remscheid
Am Anfang war eine Internet-Anfrage auf Google...
Auf den Suchbegriff „PAPIERTHEATER“ tauchten -zig Einträge zum Thema
„KAMISHIBAI“ auf. Ein Missverständnis, wie Haases gleich zu Beginn der
Aufführung deutlich machen. Handelt es sich doch um japanisches
Erzähltheater, bei dem die Erzählhandlung, illustriert mit gemalten
Bildern, optisch nachvollzogen werden kann. Allerdings zweidimensional
und ohne Bewegung.
Was würde passieren, so fragten sich Haases, wenn nun ein entsprechend
technisch versierter Kamishibai-Erzähler sich der dreidimensionalen
Bilder ‚unserer’ 3-D-Papiertheater-Welt bemächtigen würde?
Alles würde flach werden. Licht, Bewegung, Tiefe und vor allem
Räumlichkeit würden verschwinden. Um das zu verhindern gibt es nur
einen Helden: James Honk. Und der tritt dann auch zum Beweis seiner
Heldenqualitäten sofort mit einer spektakulären Fahrt im legendären
Aston Martin DB5 in Aktion. Nach rasanter Verfolgungsfahrt stürzt der
von einem Hubschrauber beschossene Wagen über die mit räumlicher Tiefe
bestens versehenen Klippen, um dann im für Actionfilme typischen
Feuerball zu explodieren. Nach dem perfekten Knalleffekt gleich zu
Anfang des Stücks geht es sofort weiter mit dem für James-Bond-Filme
typischen Vorspann aus Schattenrissen. Was hier so actionreich und
rasant beginnt, zieht sich durchs gesamte Stück. Es würde den Rahmen
sprengen aufzuzählen, was alles passiert. Wie James Honk Dr.
Kamishibai, so jagen sich hier spektakulären Spezialeffekte. Besonders
eindrucksvoll aber ist die Verwandlung vom Dreidimensionalem in das
flache Zweidimensionale gelungen. Selbst Umbaupausen unterbrechen den
rasanten Spielverlauf nicht. Der mit verteilten Rollen gesprochene Text
hält die Spannung und die Zuschauer weiter am Ball. Dabei sind die
Dialoge voller Anspielungen und Wortwitz.
Olaf Christensen
Théàtre de table, Île au trésor
Eric Poirier, Frankreich
Eric Poirier kehrte in diesem Jahr zur der von ihm bekannten offenen
Spielweise mit direkt auf dem Spieltisch bewegten Figuren zurück. Eine
Piratenflagge und die links und rechts von der Spielfläche montierten
Backbord- (rot) Steuerbord- (grün) Leuchten machten deutlich, dass die
Seefahrt ein wichtiges Element der zu erwartenden Darbietung sein würde.
Beim Betreten des Raumes sah man zentral unter einem aus groben Ästen
zusammen gezimmerten Galgen ein relativ kleines Papiertheaterchen.
Sollten die Zuschauer befürchten, die folgende Aufführung würde auf
dieser kleinen Bühne stattfinden, so nimmt Ihnen Poirier diese Sorge
gleich zu Beginn, indem er das Theater in hohem Bogen von der
Spielfläche fliegen lässt und eine große Kiste auf den Spieltisch
stellt.
Die Handlung um den legendären Schatz des Captain Flint, um Jim
Hawkins, Long John Silver, Doktor Livesey und all die anderen
Romanfiguren ist hinlänglich bekannt, die Gestaltung der vertrauten
Jugendbuch-Helden durch Eric Poirier war jedoch wiederum sehr
außergewöhnlich und lohnte in jedem Fall ein detailliertes Betrachten
der Figuren aus der Nähe nach dieser unterhaltsamen, lebhaften und
wirklich gelungenen Vorstellung.
Jens Schröder
Papiertheater Heringsdorf, SOS Italia
Robert Jährig, Heringsdorf
Mutig inszeniert und spielt Robert Jährig mit seinem Papiertheater
Heringsdorf „SOS Italia“, ein Stück, dem eine historisch verbriefte
Tragödie zugrunde liegt. 1928 sollte General Umberto Nobile zum Ruhme
Italiens und zur Erweiterung der wissenschaftlichen Kenntnisse mit dem
Luftschiff „Italia“ den Nordpol überfliegen. Nach dem Überflug stürzte
das Luftschiff in der Nähe der Insel Foyn ab; von der Besatzung
überlebten auf einer Eisscholle neun Mann und der Hund des Generals. An
der schon bald gestarteten internationalen Such- und Rettungsaktion,
beteiligten sich nicht nur verschiedene Staaten, sondern auch
verfeindete politische Systeme. Durch das relativ neue Medium des Funks
gelang es, Verbindung zu den Schiffbrüchigen herzustellen und, nach
einigen Schwierigkeiten, die Überlebenden zu retten.
Der Originaltitel des vermutlich ältesten erhaltenen deutschsprachigen
Hörspiels „SOS ... rao rao ... Foyn – ,Krassin' rettet ,Italia'“ nimmt
Bezug auf den verstümmelten Funkspruch, der als erstes in der
Sowjetunion aufgefangen wurde. Dieses Hörspiel bildet – in leicht
bearbeiteter Form – die akustische Grundlage von Robert Jährigs Stück,
das er mit – ebenfalls leicht bearbeiteten – Original-Kulissen von
Jacobsen & Co. ausgestattet hat.
Als Fan alter Grammophonaufnahmen und Hörspiele hat mir das Stück
allerdings sehr gut gefallen – gerade weil es etwas Besonderes ist.
Olaf Christensen
Paperplays, The Tinderbox or The Magic Mobile
Joe Gladwin, Großbritannien
A super surprise to see Joe present us with a new stage, proscenium and
large dynamic jointed paper figures operated from above and in a
vibrant, modern design. Also a refreshing idea to adapt the classic
“Tinderbox” story to a 21st century narrative and of course delivered
in Joe’s inimitable performance style, giving the large hanging figures
energy and full characterisation.
The reasons behind such a change in stage & figures was motivated
by Joe’s continued commitment to working in schools, a privilege I
believe for us to witness the premier of a new “hard working theatre”
which shall be put to good use time and time again. Highlights of the
play for me included one liners such as “born to be wild...” and “the
princess is on a shopping trip”!
A favourite character was the spotty dog in a fez – guardian of the
mobile (or ‘handy’) which I believe was a rather successful replacement
for the classic ‘genie of the lamp’.
Multiple rapid changing colourful back drops complemented the
‘animated‘ style of the figures which help deliver a very successful
modern storyline with, of course, a happy ending – hoorah!
Sarah Peasgood
Zusammenfassung
Eine Überraschung ist Joe Gladwins neue moderne Bühne, die mit
gigantischen beweglichen Figuren von oben bespielt wurde. Eine Spiel-
und Bühnenform, die seinem verstärkten Engagement für die Arbeit mit
Schulklassen geschuldet ist. Dabei wurde das „Magische Feuerzeug“ in
erfrischender Weise an das 21. Jahrhundert angepasst. Sarah Peasgood
gefallen besonders Joe’s lebendiger Schauspielstil, diverse Wortspiele
und der ‚Hüter des magischen Handies’, ein gefleckter Hund mit Fez.
Dass das Stück außerdem gut endet – Super!
Papiertheater der urbanen Kriminalität, Faust in Westberlin
Walter Koschwitz und Megi Koschwitz-Herrmann, Berlin
Beim nächsten Stück höre ich bereits die Frage: Ist das noch
Papiertheater? Möglicherweise gehört die Antwort auf diese Frage in den
Bereich der ungeklärten Themen. Als Dr. Mackuse Fan bereite ich mich
auf eine vergnügliche halbe Stunde vor und werde nicht enttäuscht.
Walter Koschwitz berlinert in allerbester Manier. Der Bühnenarbeiter
Emil Engelhaft schlendert durch Ostberlin und lästert über alles, was
er sieht. Als er einem Vopo, nach übertreten in den Westsektor, eine
Banane hinhält, wie im Zoo einem Affen, ist das zynisch. Jedoch
schreibe ich den Zynismus nicht Herrn Koschwitz, sondern Emil Engelhaft
zu, der seinem Namen keineswegs Ehre macht. Es passt ins Stück und zu
der Figur. Die folgenden Szenen sind prallgefüllt mit der Hektik auf
der Bühne, mit Proben, Unfällen und den bestmöglichen Versuchen,
Goethes Faust zu verunstalten und hypermodern auf die Westberliner
Bühne zu bringen. Ein köstliches Vergnügen. Ich bewundere die
Bühnenbilder und bin erstaunt, als sich diese als digitale Bilder
entpuppen, die über einen Fernseher gezeigt werden. Die sehr gute
Tonqualität könnte ein wenig leiser daher kommen.
Brigitte Lehnberg
Muthesius Kunsthochschule, HappyPaperPerformance
Studierende der Fachbereiche Raumstrategien und Illustration, Prof. Dr. Ludwig Fromm, Martin Witzel (Kieler Oper), Kiel
Zunächst einmal: die Bühne! Natürlich, denn darum geht es ja
alljährlich bei der Präsentation der Semesterarbeiten in den
Fachbereichen Raumstrategien (nannte man früher: Bühnenbild) und
Illustration. Die angehenden Profis können, im Gegensatz zu den meisten
anderen Teilnehmern des Festivals auf professionelle Bühnen- und
Projektionstechnik zurückgreifen, was sie naturgemäß etwas außerhalb
des übrigen Festivalgeschehens ansiedelt. Dennoch ist ein Besuch ihrer
Vorstellungen immer für Überraschungen gut. In diesem Fall eine fünf
Meter lange, weiße Wand mit einer unregelmäßigen Aussparung im rechten
Drittel und, wie sich später zeigen soll, zwei weiteren ausklappbaren
Kleinbühnen.
In diesem Szenario begegnet eine ziemlich ramponierte, blasse
Papiertheaterfigur einem perfekten kleinen Cartoon-Piraten. Es geht um
Papier, seine Herkunft und sein Potential, Träume zum Leben zu erwecken
...
Sabine Herder
Papiertheater Pollidor,
Sie kamen
niemals an
Barbara und Dirk Reimers, Preetz
Barbara und Dirk Reimers gewannen den „Bremer Stadtmusikanten“ einen
Aspekt ab, den man als jüngerer Leser gerne übersieht: Die vier Tiere
sind nicht nur Außenseiter, die eine neue Perspektive suchen, sie sind
in Würde ergraut und wurden vom Hof gejagt, als ihre Aufgaben begannen,
sie an die Grenzen ihrer körperlichen Fähigkeiten zu bringen.
Als der „Verein der Vertriebenen“, kurze Zeit später mit Hahn und Katze
vom „Dütt“ zum Quartett angewachsen, zu seinem ersten Konzert anhebt,
wandelt sich die Szene: In der bayerischen Staatskanzlei entbrennt
zwischen Charts und Börsenbarometer ein Streit über den Windstrom von
der deutschen Küste; neben der Bühne schon nach einigen Sätzen ein
veritabler Ehekrach zwischen den Darstellern. Ein falsches Szenenbild
hat sich dazwischengemogelt! Die Zuschauer sind konsterniert. Erst als
der Streit kein Ende nehmen will, wird den meisten klar: Alles nur
gespielt!
Herrlich, den beiden zuzusehen und zu -hören! Feinsinnige Wortspiele,
politischer Hintersinn, originelle Szeneneinfälle und nicht zuletzt die
stimmlichen Qualitäten überzeugen, wobei Dirk Reimers sich nicht scheut
zu chargieren und Barbara Reimers mit einer – von mir – bisher noch
nicht gehörten zarten, melodischen Singstimme überzeugt.
Sabine Herder
Théatre Mont d’Hiver,
Cinema Nostalgia
Birthe und Sascha Thiel, Saarbrücken
Ein Varieté der Zwanziger Jahre in der Krise. Da taucht jemand auf, den
man heute als ‚Investor’ bezeichnen würde, ein reicher Amerikaner, der
die spontane Idee hat, aus dem wunderschönen Etablissement ein
Filmtheater zu machen. Die alternde, unter Depressionen leidende
Besitzerin lehnt entrüstet ab. Der Amerikaner lässt seinen charmanten
Optimismus spielen und nach einigem Hin und Her willigt Madame ein. Das
Haus eröffnet neu als Kino und zeigt einen Film, in dem die ehemalige
Diva eine Wiederauferstehung als Filmstar feiern kann. Eine leise,
rührende Geschichte, die das Ableben alter, das Aufkommen neuer Künste
und das Weiterleben der alten erzählt. Die beiden Thiels liefern eine
Aufführung, an der alles stimmt. Die Kulissen teils mimetisch, teils
stilisiert, klar in Aufbau und der farblichen Gestaltung, die Figuren
markant, die Handlung live und professionell gesprochen, die Musik
stimmungsvoll und gezielt eingesetzt, die Wechsel fließend, ohne
Hektik, die beiden Spieler in perfekter Harmonie. Bravo, bravissimo!
Freuen wir uns auf weitere Stücke!
Horst Römer
Conejo de Papel, No Sea at no time
Mauricio Martinez und Ana Paula Rosales, Mexico
Ihr kleiner Sohn kontrolliert die Eintrittskarten, und ein kleiner
Junge ist es auch, der nachts in seinen Gedanken und Träumen über die
Weltkarte reist, die zwischen seinem Zimmer und dem seiner noch
kleineren Schwester hängt. Sie schreit eines Nachts auf, er sieht sie
irgendwo verloren gehen und reist ihr nach, um sie in die Geborgenheit
ihres Zuhauses zurück zu bringen. Das erscheint simpel, wenn man es so
erzählt, aber die Aufführung lebt weniger von dem Plot als von der
lyrischen Gestaltung, den Stimmen, der Musik und den zarten, liebevoll
gestalteten Requisiten, die das Paar bewegt (alles ohne herkömmliche
Bühne).
Mauricio Martinez (bekannt vom Teatro Facto) und Ana Paula Rosales
vermitteln ein Lebensgefühl, das vielleicht dem Wünschen näher ist als
die Wirklichkeit, aber uns den Blick freigibt auf eine Welt, die wir
uns gerade heute wünschen: wo Menschen einander Liebe geben und – das
sagte es mir – den Planeten trotz unserer Anwesenheit aufatmen lassen.
(Am selben Tag hörte ich, dass Mexiko sich eines Rückganges der
Mordrate um 27 % erfreut – bei 20.000 Fällen im Jahr!)
Uwe Warrach
Römers Privattheater,
Das Hokusai
Museum
Motoko und Horst Römer, Wildeshausen
Inspiriert von den „Nachts-im Museum“-Teeniefilmen erzählen Horst und
Motoko Römer die Geschichte der Geschwister Yuki und Taro, die sich auf
dem Museumsfest verbasteln und Meister Hokusai persönlich begegnen.
Ihrem anfänglichen Zweifel, die Bilder betreten zu können, begegnet der
prominente Führer, indem er die zunächst flachen Bilder zu
dreidimensionalen Welten auffaltet.
Hokusais wunderschöne Bilder, eine perfekte, ausgefeilte Technik,
gewiefte Tricks und raffinierte Schiebemechanismen machten das Stück
zum Augenschmaus.
Auf dem Tonträger waren in den Rollen der Kinder auch Bärbel und Maria
Römer mit dabei. Die im Hintergrund laufenden japanischen Kinderchöre
verliehen dem „Hokusai Museum“ eine stimmige Atmosphäre. Große Klasse!
Sabine Herder
Hellriegels Junior, Die 12 Monate
Gerlinde Holland und Willem Klemmer, Kiel
„Die 12 Monate“ erzählt eine Variation des Stiefkindermotivs: Die
benachteiligte Tochter aus erster Ehe wird von ihrer Stiefmutter mitten
im Winter losgeschickt, um frische Früchte für ihre verwöhnte Schwester
zu besorgen. In einem bösen Schneesturm stößt sie auf die Geister der
12 Monate, die der bescheidenen jungen Frau helfen. Statt wie erwartet
in der unwirtlichen Natur zugrunde zu gehen, kann sie so die
unmöglichen Wünsche erfüllen. Gierig auf weitere Wunder machen sich
Mutter und Schwester auf den Weg zu den Geistern. Doch sie fordern und
raffen, wo Bitten und Maß halten angemessen gewesen wären und gehen
schließlich, mit schweren Säcken bepackt, im Schneesturm unter. Die
ältere Schwester erbt Haus und Hof und ihrem Glück steht nichts mehr im
Wege.
Gerlinde Hollands schöner Erzählstil und Willems keck gesprochene
Dialogszenen ergänzten sich hervorragend, auch wenn Willems Einwürfe
zuweilen etwas schnoddrig daher kamen. Zwar ist auch hier inzwischen
eine farbige Lichtregie eingezogen, aber die Tricks sind noch im besten
Sinne handgemacht und von großem Zauber.
Sabine Herder
Don Giovanni, Käthchen & Co.,
King Arthur
Peter Schauerte-Lüke und Ulrike Jöris-Pitschmann und Massimo, Köln
Große Bühne, wie immer, die Kulissen traditionell, dabei frage ich
mich: Wie hat er sie so groß hingekriegt? Jedenfalls ist das für das
Publikum schon einmal komfortabel. Und beeindruckend sowieso.
Der legendäre Britenkönig Arthur, auch als Artus bekannt, tritt
vergrätzt auf, denn man hat ihm soeben seine Verlobte geraubt, die
blinde Emmeline, das heißt: nicht ‚man’, sondern der Sachsen-Anführer
Oswald, der sie so liebt, dass er ohne sie nicht meint leben zu können.
Besonders nett ist er trotzdem nicht zu ihr. Man ahnt schon, dass es
grobschlächtig bis rumpelhaft zugeht auf der großen Bühne und in den
tiefen Wäldern, das hört man auch an dem altenglischen Idiom, in dem
sich die Gestalten manchmal unterhalten. Aber sie singen auch, und
spätestens hier müssen die spielerischen und sängerischen Leistungen
von Peter Schauerte-Lüke und (man darf wohl sagen) vor allem seiner
Partnerin Ulrike Jöris-Pitschmann ausgezeichnet werden. Sie erhöhen das
Zünftig-Derbe zum Lyrischen, und am Schluss durften wir sogar ein
englisches fröhliches Lied mitsingen. Ach so, ja, und in der Sache wird
alles gut. Sehr viel verdienter Beifall.
Uwe Warrach
Little Blue Moon Theatre, Canterbury: The Miller’s Tale
Valerie und Michael Nelson, USA
Vor einer sehr großen Bühnenwand erscheinen Valerie und Michael Nelson
in spätmittelalterlichen Kostümen. Nach einer kurzen Einführung in die
Geschichte der „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer eröffnen sie
ihre Vorstellung mit einem Lied. Dann erscheint in der rechten oberen
Bühnenöffnung der titelgebende, schon recht angetrunkene Müller in Form
einer knollennasigen Handpuppe und beginnt zu erzählen: Die junge
Allison sucht sich aus drei heiratswilligen Männern den ältesten Mann
mit Geld aus. Doch die beiden anderen geben nicht auf und werben weiter
um die Schöne. Sie ist nicht abgeneigt und kann sich nach einer List
dem Liebesspiel mit Nicolas hingeben.
Absalom, der zweite abgewiesene Bewerber, erwischt die beiden
inflagranti. Es entfaltet sich ein burleskes Spiel um Küsse, die auf
dem falschen Körperteil landen und um Rachegelüste , die einen tiefen
Griff in die Kiste mit Spezialeffekten erlauben. Am Ende entsteht ein
Tumult auf der Bühne, der ahnen lässt, was Valerie und Michael hinter
der Bühne stimmlich bei diesem live gesprochenen Stück leisten müssen.
Dass hier der Applaus kein Ende nehmen will, überrascht nicht wirklich.
Nelsons haben wieder einmal alle Register des Papiertheaters gezogen
und zusätzlich Puppenspiel und eigene Schauspielleistung vor der großen
Bühnenwand geschickt mit Handlung und Spiel verwoben. Im wahrsten Sinne
des Wortes „Ganz Großes Theater“!
Olaf Christensen